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„Evidenzbasierte Politik“ ist ein Widerspruch in sich

DMZ –  POLITIK ¦ Dirk Specht ¦                                 

KOMMENTAR

 

„Die FDP hat Zeit, das Land nicht“ titelt die historisch gewiss nicht als FDP-Feind besonders bekannt gewordenen FAZ. Gemeint ist die Corona-Politik der kleinsten Regierungspartei. „Viel spricht dafür, dass die Bundesregierung das Land ein weiteres Mal weitgehend unvorbereitet in den Corona-Herbst schickt. Jeder kann sehen, wer dafür die Verantwortung trägt“ wird in dem leider hinter der Paywall liegenden Beitrag einleitend erklärt: https://www.faz.net/…/corona-massnahmen-fuer-den-herbst…

 

Dieser Beitrag steht nicht allein. „Was man sagen kann, wenn man zu wenig weiß“ lautet ein weiterer, der sich für die Verhältnisse der FAZ ausgesprochen kritisch mit der Expertenkommission auseinandersetzt. „Die Corona-Kommission arbeitet holprig. Der Virologe Christian Drosten sprang ab, die Daten sind dünn, die Ergebnisse wenig überraschend“ ist hier zu lesen. Dieser Beitrag spricht von einer „interdisziplinären Professorengruppe“, um die Zweifel an deren Besetzungspolitik und letztlich sachgerechter Kompetenz aufzuzählen: https://www.faz.net/…/corona-massnahmen-kein-klares…

 

Das allgemeine Echo auf den Bericht der Kommission reicht von verhalten bis zu kritisch, die FAZ steht keineswegs alleine da. Große Ausnahme ist kaum überraschend die Springer-Presse, die FDP-Lautsprecher Kubicki bereits eine große Bühne geboten hatte, als der Bericht selbst nur wenigen überhaupt zur Verfügung stand. Das fatale an dieser Kampagne der FDP ist, dass sie aus deren Sicht weit mehr Chancen hat, zu gelingen, als komplett schief zu gehen.

 

Es bestätigt sich, dass die Partei erfolgreich im Lager der „Querdenker“ unterwegs war. Kubicki wird in entsprechenden Foren gefeiert und der Bericht der Kommission in einer Weise bewertet, die dessen Inhalt natürlich gar nicht hergibt. Da das überwiegend einsetzte, als das Dokument öffentlich noch gar nicht verfügbar war, wird sich daran auch nichts mehr ändern.

 

Dieser kommunikative „Erstschlag“ durch Kubicki war in den dafür gedachten Zielgruppen natürlich ein Selbstläufer. Viele weitere Partei- und Fraktionsmitglieder hauten in dieselbe Kerbe, aber die Kampagne reicht bis zu dem sehr geschickt, weil viel moderater vortragenden Justizminister. Erkennbar will man auch die immer größer werdende Gruppe derjenigen adressieren, die von Corona schlicht nichts mehr hören will und bei der die vielen „alles übertrieben“ Nachrichten zunehmend Wirkung zeigen.

 

Man darf anerkennen, dass die FDP ihren proportional eigentlich geringen Einfluss durch die Rolle in der Ampel geschickt nutzt. Der Kanzler, der das Konzert verantwortet, scheut ganz offensichtlich jeden Konflikt in dem Sinne, dass er die Themen, bei denen er sich wehrt, doch auffällig reduziert. Bei der Impfpflicht hat er sich darauf eingelassen, keinen eigenen Regierungsentwurf vorzulegen, sondern das Ganze einem parlamentarischen Prozess überlassen, den die FDP, leider mit Unterstützung der Union, erfolgreich hintertreiben konnte. Beim Tempolimit will Scholz offensichtlich auch nicht und die Besetzung sowie Arbeit der Corona-Kommission ist leider eine Fortsetzung der Impfpflicht.

 

Bereits im Koalitionsvertrag wurde bekanntlich festgelegt, dass man die Corona-Maßnahmen durch eine Expertenkommission prüfen werde, bevor man entscheide, wie das fortzusetzen sei. Das klingt alles vollkommen aufrichtig, wer will schon abstreiten, dass Aufklärung ganz ganz toll ist. Wer das aber so hoch hängt, muss bei Besetzung und Ausstattung des entsprechenden Gremiums diesen Maßstäben gerecht werden. Erneut wurde jedoch festgelegt, dass die Besetzung letztlich politisch erfolgt: Je zur Hälfte von der Regierung und dem Parlament. Ergebnis ist eine Kommission, die nicht nur eine „interdisziplinäre Professorengruppe“ ist, sondern in der Außenseiterpositionen weit überproportional vertreten sind. Fatal und wissenschaftlich nicht nachvollziehbar ist ferner die Tatsache, dass Experten im Umgang mit komplexen Daten und statistischer Methodik gar nicht vertreten sind, obwohl angeblich das Thema „Evidenz“ ganz oben steht.

 

Dass diese Kommission im Wesentlichen nun einen „Bericht“ vorlegt, der am Umgang mit den Daten scheitert, war vorprogrammiert. Es darf leider vermutet werden, dass diese Vorprogrammierung mit Absicht erfolgte. Leider zeigt sich an der Stelle, dass der Umgang der Politik mit der Wissenschaft tatsächlich über die FDP hinaus eher „befremdlich“ ist. Wer eine sachgerechte Klärung wünscht, kann so eine Besetzungsmechanik kaum wählen. Hier setzt sich fort, was wir von Expertengremien der Regierungen kennen: Das ist nur Fortsetzung von Politik und eben keine Wissenschaft.

 

An der Stelle ist der FDP kein gesonderter Vorwurf zu machen, das haben alle Parteien so betrieben und man muss vermuten, dass da eine Allianz zwischen FDP und Union entstanden ist, weshalb das so analog zur Impfpflicht verlaufen ist. Das Verhalten der Union ist an der Stelle natürlich genauso kritisch zu würdigen, aber sie kann für sich wenigstens reklamieren, keine Regierungsverantwortung zu tragen.

Diese aber ist in unserer multiplen Krisensituation so relevant wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Das ist der entscheidende Punkt, an dem die FDP zu messen ist. Bezogen auf Corona ist deren Strategie durchschaubar. In der eigenen Zielgruppe punktet sie damit sehr sicher und die Chancen, dass sie darüber hinaus Sympathien erwirbt, sind eher groß. Denn: Das Chart anbei zeigt einen weltweiten Trend, der natürlich auch für Deutschland gilt: Die Pathogenität des Virus ist rückläufig. Wir sehen überall Infektionswellen, die größer werden und im Verhältnis dazu kleinere Krankheitslasten.

 

Das ist zunächst eine gute Nachricht und niemand in der Wissenschaft leugnet, dass deshalb die bisherigen Maßnahmen zu überprüfen sind. Wir sehen aber auch, dass die weit höheren Infektionswellen halt absolut wieder zu ähnlichen Belastungen des Gesundheitswesens führen, was sich bis zu den Sterbezahlen auswirkt. Niemand sollte zudem vergessen, dass wir erst vor etwas mehr als einem halben Jahr noch Patienten mit Bundeswehrmaschinen verlegen mussten. Dafür war eine andere Virusvariante verantwortlich und genau das ist die große Unbekannte: Was kommt im Herbst auf uns zu – setzt sich dieser Trend fort, auf welchem Level oder bricht er gar?

 

Das ist halt die Krux mit der so gerne postulierten „evidenzbasierten“ Politik. Nach FDP-Lesart führt das zwingend in die Situation, jegliche Prävention zu verweigern und Schäden zuerst mal zuzulassen. Diese Partei mit einer sehr kleinen demokratischen Basis hat aber beste Chancen, damit erfolgreich zu sein. Wenn der Trend nicht grundsätzlich bricht, kann man mit dem Narrativ der Kapazitäten des Gesundheitswesens vermutlich immer besser punkten und dass man nur lange genug von Endemie reden muss, bis die tatsächlich dann mal erreicht ist, ist zwar nicht wissenschaftlich richtig, aber politisch ein sehr naheliegendes Kalkül.

 

Wer Politik kritisch bewertet, sollte aber erkennen: Um Corona geht es hier nur am Rande, verantwortlich ist davon nichts, es ist nicht mal demokratisch, was da passiert. Mit Wissenschaft hat das alles absolut gar nichts zu tun. Die wissenschaftliche Gesamtbewertung der Pandemie wird noch einige Jahre dauern und sie wird durch die international kooperierende Wissenschaft erfolgen. Eben weil das so ist, muss Politik an der Stelle überhaupt tätig werden, denn es geht ja anders, als die FDP behauptet, gar nicht um die Klärung der Vergangenheit, sondern um die Vorbereitung des nächsten Winters.

 

Der kündigt sich nun aber noch früher an als bisher und die Trends zeigen nun mal, dass die gesundheitlichen Belastungen wieder kritische Werte erreichen können. Niemand kann sagen, wie hoch die ausfallen werden. Genau deshalb ist Politik aber gefragt, genau das ist ihre Aufgabe: Sie hat genau jetzt eben nicht zu klären, was in der Vergangenheit richtig oder falsch war, sondern was zu tun ist, um mit diesem Risiko einer erneut zu hohen gesundheitlichen Belastung umzugehen.

Politik muss sich mit Risiken beschäftigen, der Begriff der evidenzbasierten Politik ist gewissermaßen ein Widerspruch in sich.

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