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Covid-19 - Willful blindness

DMZ – MEDIZIN ¦ Dr. med. Maja Strasser  ¦                 

KOMMENTAR

 

Nach mehr als zweieinhalb Jahren Pandemie wissen wir so viel, z.B. dass SARS-CoV-2 hauptsächlich über Aerosole übertragen wird, dass auch gesunde, fitte Menschen schwer krank werden, und dass die Impfungen wirksam und sicher sind. Und zwar nicht nur theoretisch, aus der Fachliteratur, sondern wir konnten es auch im Alltag erkennen, aus eigener Erfahrung.

 

Wieso halten sich dann gegenteilige Überzeugungen so hartnäckig? „Willentliche Blindheit“ (willful blindness) bedeutet in der US-amerikanischen Rechtssprache, dass eine Person versucht, sich einer Haftung für eine rechtswidrige Handlung zu entziehen, indem sie sich absichtlich von Tatsachen fernhält, die sie haftbar machen oder verwickeln würden.

 

Im weiteren Sinne ist „willentliche Blindheit“ ein psychologischer Mechanismus, dass wir unangenehme Erkenntnisse verdrängen – weil sie uns bedrohen, nicht zu unseren Überzeugungen passen, uns zu Aussenseitern machen… so reduzieren wir kognitive Dissonanz, also das unangenehme Gefühl, dass die Fakten diametral unseren Meinungen und Handlungen widersprechen.

 

Der Psychologe Solomon Asch führte in den 50er Jahren ein Experiment an Collegestudent:innen durch. Er bildete Gruppen von jeweils acht Personen, sieben davon waren eingeweihte Mitwisser. Dann zeigte er ihnen zwei Karten: die erste mit einer einzigen Linie, die zweite mit drei Linien, wobei eine deutlich länger und eine kürzer war als die auf der ersten Karte. Die Gruppen wurden gefragt, welche Linie gleich lang war wie die erste. Die echten Probanden kamen dabei immer zuletzt an die Reihe, während die Mitwisser instruiert worden waren, dieselbe falsche Antwort zu geben. 35% der Probanden gaben ebenfalls die falsche Antwort!

 

„Willentliche Blindheit“ findet sich bezüglich der Pandemie auf allen Ebenen:

  • Nicht nur bei „Querdenkern“, sondern bei all jenen, die ohne Maske einkaufen oder öffentliche Verkehrsmittel benutzen. 
  • Medien und Politiker:innen, die verdrängen, dass viele asiatische Länder von SARS gelernt haben und die jetzige Pandemie weit besser meistern.
  • Wirtschaftsverbände, die massenhaft krankheitsbedingte Ausfälle haben, aber daran festhalten, dass die Massnahmen angeblich der Wirtschaft schaden.
  • Ärzt:innen, die meinen, Long Covid müsse sehr selten sein, statt dass sie an ihren diagnostischen Fähigkeiten zweifeln.

Wie können wir vermeiden, in diese Falle zu tappen?

Zuallererst müssen wir unsere eigenen Grenzen erkennen. Wer keine Expertise auf diesem Gebiet mitbringt, hört besser auf diejenigen, welche fundierte Kenntnisse haben und/oder selbst betroffen sind. Es gibt zahlreiche eindrückliche Zeugnisse von Long Covid Patient:innen oder von Gesundheitspersonal, das den Alltag während der Wellen schildert, z. B. vom Intensivpfleger Ricardo Lange. 

 

Nun gibt es immer widersprüchliche Aussagen – „die Wissenschaft“ ist nun mal kein Monolith und leider nicht frei von Selbstdarstellung oder Interessenvertretung. Verschlimmert wird dies durch die “false balance” (falsche Ausgewogenheit) der Medien, die zu sehr bemüht sind, allen ein Sprachrohr zu sein, anstatt journalistisch einzuordnen. Hier ist es wichtig, den wissenschaftlichen Konsens von Aussenseitermeinungen zu unterscheiden, gleichzeitig aber auch den Konsens und die eigene Überzeugung ständig zu hinterfragen.

 

Hilfreich ist, eine Aussage einzuordnen in das, was man bereits weiss. Die Aussage von Daniel Koch in den ersten Wochen der Pandemie, dass Kinder nicht infiziert werden und auch nicht anstecken, war beispielsweise sehr unplausibel – das wäre für einen Coronavirus eine Weltneuheit. 

 

Wer sich den Luxus einer eigenen Meinung leistet, sollte sich die Mühe machen, sich zu informieren und auf Fakten basierend zu argumentieren, anstatt Telegram-Gruppen oder ServusTV nachzubeten.

Es hilft auch, die Absichten zu hinterfragen – die der Gegenseite ebenso wie die eigenen. Vor allem aber braucht es kritische Distanz und Mut, gegen den Strom zu schwimmen und zu den Fakten und seinen Werten zu stehen. Mut, hinzusehen, auch (und gerade!) wo es weh tut.

 

Und: if it sounds too good to be true, it probably is. So hat Hendrik Streeck schon mehrfach das baldige Ende der Pandemie verkündet… schön wär‘s.

 

 

 

Quellen:

Margaret Heffernan: “Willful blindness” (und/oder ihr TED-Talk mit demselben Titel)

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