Kulturelle Aneignung – Brasserie Lorraine: "Uns geht es gut."

DMZ –  KULTUR / GESELLSCHAFT ¦ Sarah Koller ¦     

 

Wer sich mit dem Thema Rassismus beschäftigt, hat vermutlich festgestellt, dass Rassismus wenig mit Absicht und viel mit Wirkung zu tun hat. Ausserdem findet sich Rassismus nicht immer in bewusster Diskriminierung, sondern oft auch in kleinen Verhaltensweisen (z.B. kulturelle Aneignung), die man nicht hinterfragt.

 

Der Begriff kulturelle Aneignung an sich wurde gemäss diverser Quellen erstmals in den 1980er Jahren in der Kritik des Postkolonialismus verwendet. Kulturelle Aneignung, auf Englisch auch ‘Cultural Appropriation’ genannt, bedeutet, dass Menschen aus privilegierten Gesellschaften kulturell bedingte Kleidungsstücke, religiöse Accessoires oder andere Traditionen von benachteiligten Gruppen aus modischen Gründen übernehmen – den kulturellen Wert aber ausser Acht lassen und womöglich dadurch profitieren.

Kulturelle Aneignung ist ein komplexes Thema. Leider unterschätzen manche Menschen die mögliche Tragweite, während andere jedem kulturellen Austausch Rassismus unterstellen. Das führt sowohl zu Konflikten als auch zur Verhärtung der Fronten. Wichtig ist zunächst zu verstehen, warum kulturelle Aneignung ernsthafte Probleme schaffen kann.

 

Konzertabbruch wegen Dreadlocks

Aus Sicht des Veranstalters in Bern, war dies in vorliegendem Fall nach gegeben gewesen. Das Konzert vom 18. Juli in der Berner Brasserie Lorraine war abgebrochen worden, weil sich Leute im Publikum unwohl damit fühlten, dass eine weisse Band Reggae-Musik spielte und Bandmitglieder Dreadlocks trugen. Verschiedene Konzertbesuchende sollen dies als kulturelle Aneignung empfunden und beim Brasserie-Team reklamiert haben. Wie die Veranstalter in ihrem Statement (27-7-22) schreiben, stehen sie nach wie vor geschlossen hinter dem Entscheid, das Konzert nach Rücksprache mit der Band abzubrechen. „Es war nie in unserem Interesse, Menschen zu diskreditieren oder ihnen das Recht an einer Leidenschaft abzusprechen. Jedoch entspricht es unserer tiefen Überzeugung, rücksichts- und verantwortungsvoll zu handeln. Dazu gehört, alle Stimmen zu hören, auch diejenige der Minderheit. Wir glauben nicht, dass wir als Gesellschaft weiter kommen können, wenn sich die Meinung der Mehrheit über diejenige der Minderheit hinwegsetzt, ohne einander zuzuhören.“

 

Wir wollten von den Veranstaltern u.a. wissen, wie es ihnen persönlich geht, nachdem sie europaweit zum Thema wurden und starker Kritik ausgesetzt waren und immer noch sind. Die Veranstalter sind in der Folge der Geschehnisse Opfer geworden von Hassnachrichten und einem nicht enden wollenden Shitstorm der extremen Art, sowie Negativbewertungen auf fast allen möglichen Bewertungsportalen. Wie immer, machen sich auch hier, die Leute, die dafür verantwortlich sind, keine Gedanken und vergessen offensichtlich, dass hinter der Brasserie auch Menschen stecken, u.a. auch mit Familien. Deshalb wollten wir wissen, wie es allen in diesen Stunden geht und ob auch Hilfe in Anspruch genommen wurde. Die Brasserie versicherte uns, dass es allen gut gehe: „Uns geht es gut, danke für die Nachfrage.“

 

Es steht jedem Veranstalter frei, ein Konzert abzusagen, wenn er will. Unsere Frage, ob die Brasserie vor dem jetzigen Hintergrund noch einmal das Konzert abbrechen würde, wird im Statement vom 27.7.22 klar mit Ja beantwortet. Offenbar gibt es aktuell auch (noch) keine finanziellen Einbussen und weder das Weiterbestehen des Lokals noch Arbeitsplätze sind gefährdet.

 

Kultureller Austausch

Übernehmen Menschen Elemente aus anderen Kulturen oder kombinieren sie mit dem, was sie als ihre eigene Kultur verstehen, findet zunächst erstmal ein kultureller Austausch statt. Solche Art von Austausch gibt es wahrscheinlich so lange, wie es Menschen gibt. Umso mehr in Zeiten der Globalisierung, wo es leicht ist, von anderen Kulturen zu erfahren, deren Essen, Kleidung, Musik und vieles mehr dann unsere eigene Kultur und Identität prägen kann. Solange der Austausch auf Augenhöhe stattfindet, ist das auch vollkommen unproblematisch.

 

Ethisch diskutabel wird das Problem, wenn jemand aus einer Mehrheit kulturelle Elemente einer Minderheit kopiert, ohne sich über die kulturelle Bedeutung oder Geschichte gewahr zu sein und ohne Rücksicht auf die kulturellen Gepflogenheiten der kopierten Kultur zu nehmen. Denn oft handelt es sich bei den kopierten Elementen um Eigenschaften, für die eine kulturelle Minderheit Diskriminierung oder gar institutionellen Rassismus erfahren hat oder immer noch erfährt.

 

Beispiele von ‘Cultural Appropriation’

‘Cultural Appropriation’ kann von Angehörigen der betroffenen „Gruppe“ natürlich schlicht als respektlos empfunden werden und kann auch dazu führen, dass Traditionen verloren gehen oder verfälscht werden. Problematisch ist jedoch auch, wenn jede Form des Austauschs der kulturellen Aneignung bezichtigt wird. Auf lange Sicht würde dies zu einer sehr klaren Trennung verschiedener Kulturen führen und den Austausch sowie die gegenseitige Beeinflussung einschränken.

 

Bindis

Bindis sind Punkte, die meist in rot und zwischen den Augenbrauen getragen werden. Besonders auf Festivals ist der Gesichtsschmuck beliebt. Doch selten ist den Trägern bewusst, was Bindis symbolisieren. Man spricht nicht von kultureller Aneignung, wenn ein Immigrant die kulturellen Merkmale des Landes annimmt. Denn der Grund dafür, warum zum Beispiel eine indische Frau zu Jeans und Bluse in Deutschland greift, ist in der Regel dadurch motiviert, nicht auffallen zu wollen. Bei Merkmalen, die unter kulturelle Aneignung fallen können, ist das Gegenteil der Fall. Das Fremdartige wird kontextlos in Szene gesetzt.

 

Cornrows

Für den Haarstyle wurden schwarze US-Amerikaner ausgelacht und diskriminiert. Jahrzehntelang diente die Frisur unter anderem dazu, rassistische Stereotype zur Repräsentation von Schwarzen in weiss dominierten Medien zu nutzen. Während gestern noch ethnische Minderheiten für die Frisur Rassismus erfahren haben, wird sie über Nacht zum Trend, wenn ein weisser Star sie trägt. Meist sind sich die Trendsetter des geschichtlichen und kulturellen Kontexts nicht einmal bewusst. Zwar kann das dafür sorgen, dass ein kulturelles Merkmal gesellschaftlich akzeptierter wird, nur leider geht das Bewusstsein für die kulturellen Ursprünge dafür verloren.

 

Federschmuck oder Dashikis

Ob als Kostüm oder aus modischen Gründen: Accessoires und Kleidungsstücke, die mit indigenen Kulturen zusammenhängen, sind ein Beispiel für kulturelle Aneignung. Denn auch hier spielt selten die Geschichte oder Bedeutung eine Rolle. Das Kleidungsstück Dashiki beispielsweise ist ein Symbol für die Hürden und Probleme, denen afroamerikanische Menschen in den USA historisch gesehen begegnet sind und noch immer begegnen.

 

Maori-Tattoo

Wer sich beispielsweise ein Maori-Tattoo stechen lassen möchte, sollte sich sowohl der Geschichte als auch der tiefen kulturellen Bedeutung der Symbolik bewusst sein.

 

Blackfacing

Blackfacing bedeutet, weisse Haut für ein Kostüm dunkler zu färben, etwa mit Karnevalsschminke. Schwarze Menschen werden aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert – im Alltag, aber auch durch bestehende Strukturen wie etwa im Arbeitsmarkt. Sie können diese jedoch nicht abends wieder abschminken. Blackfacing verharmlost diese Problematik. Ähnliches gilt für Afro-Perücken.

 

Dreadlocks, Braids

Ähnlich problematisch ist das Tragen von Braids oder Dreadlocks aus modischen Gründen – wobei der Begriff Dreadlocks negativ behaftet ist. Weisse haben der Frisur den Namen gegeben und “dread“ bedeutet auf deutsch “Furcht“. Die Frisuren sind Gegenstand von Diskriminierung und Rassismus. Dreadlocks sind aus vielen verschiedenen Kulturkreisen bekannt und haben bei den Rastafari eine besondere Symbolik. Zudem begannen Schwarzem während des Black Power Movements, die Frisur stolz zu tragen, statt ihre Haarstruktur zu verstecken und sich den weissen Schönheitsidealen anzupassen. Da Dreadlocks allerdings genau wie viele andere ethnisch geprägte Frisuren weitestgehend als akzeptiert gelten und auch aus rein modischen Gründen getragen werden, ist die Legitimation dieses Vorwurfs mindestens fraglich.

 

Doch wo liegt die Grenze der kulturellen Aneignung? Tatsächlich unterscheiden einige sogar in “Cultural Appropriation“ (kultureller Aneignung) und “Cultural Appreciation“ (kultureller Anerkennung). Ersteres bedeutet die Geschichte hinter den Stilen und Accessoires zu ignorieren, Profit daraus zu schlagen, sie eigennützig zu behandeln und für sich zu beanspruchen. Kulturelle Anerkennung hingegen bedeutet, sich mit einer Kultur zu beschäftigen, sich darüber zu informieren, sie zu beachten – und auf dieser Basis zu entscheiden.

 

Während es mindestens diskutabel ist, wie leichtfertig grosse Stars oft mit Kulturgut umgehen, um daraus Kapital zu schlagen, sollte man ebenso kritisch sein, wenn jedes fremdartige kulturelle Element als diskriminierende Aneignung wahrgenommen wird. Beide Formen sind Extreme, deren Ziel es oftmals nicht ist, wirklich Kulturen zu schützen, sondern sich in einem Feindbild Rechtfertigung für die eigene Position zu verschaffen. Sinnvoll ist es, sich selbst zu bilden, bevor man selbst Elemente aus anderen Kulturen übernimmt. Wissen gibt Ihnen die Möglichkeit, die Kultur und Geschichte wertzuschätzen. Unwissenheit schützt hingegen nicht davor, im Zweifel kritisiert zu werden.

 

Brasserie Lorraine - Statement vom 27.7.22

„Unsere kleine Quartierbeiz im Herzen der Lorraine hat in den letzten Stunden unerwartet grosse Aufmerksamkeit erhalten. Als basisdemokratisches Kollektiv möchten wir uns zu den Geschehnissen und in erster Linie zum öffentlichen Diskurs äussern.

 

Unsere social media Kanäle werden zurzeit geflutet mit Kommentaren, die teilweise massiv rassistisch sind und keinen Beitrag leisten zu einer konstruktiven Diskussion. Wir haben nicht die Kapazität, diesen Diskurs angemessen zu moderieren, weshalb wir uns entschieden haben, unsere Profile vorübergehend zu deaktivieren. Die angekündigte öffentliche Podiumsdiskussion wird zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden, um der Dynamik und dem Ausmass der Diskussion gerecht werden zu können.

Wir stehen nach wie vor geschlossen hinter dem Entscheid, das Konzert nach Rücksprache mit der Band abzubrechen. Es war nie in unserem Interesse, Menschen zu diskreditieren oder ihnen das Recht an einer Leidenschaft abzusprechen. Jedoch entspricht es unserer tiefen Überzeugung, rücksichts- und verantwortungsvoll zu handeln. Dazu gehört, alle Stimmen zu hören, auch diejenige der Minderheit. Wir glauben nicht, dass wir als Gesellschaft weiter kommen können, wenn sich die Meinung der Mehrheit über diejenige der Minderheit hinwegsetzt, ohne einander zuzuhören.

 

Offensichtlich ist die Thematik der Kulturellen Aneignung von grosser gesellschaftlicher Relevanz und Aktualität. Uns ist bewusst, wie aufgeladen und emotional das Thema ist. Umso wichtiger erscheint es uns, wird darüber gesprochen. Die Art und Weise, wie der öffentliche Diskurs nun aber geführt wird, erstaunt uns und macht uns betroffen.

 

Anstelle von Sensationsberichten und reisserischen Headlines wünschen wir uns eine differenzierte und konstruktive Auseinandersetzung mit einer hochkomplexen Thematik, auf deren Fragen auch wir keine abschliessenden Antworten haben. Wir verstehen unser Handeln aber auch immer als Versuch, einer gesellschaftlichen und strukturellen Problematik mit einem inklusiven Bewusstsein zu begegnen. Was ist falsch daran, Rücksicht zu nehmen auf Menschen, die ihr Unwohlsein äussern? Auf Menschen, die unter dem strukturellen Rassismus in diesem Land leiden und auf diejenigen, die sich mit ihnen solidarisieren?

All Jenen, die jetzt nach Bevormundung schreien, von Cancel Culture und von einer Diktatur der superwoken Minderheit über eine Mehrheit reden, möchten wir entgegnen: Eine Gesellschaft, die keine Rücksicht nimmt auf die Stimmen von Minderheiten, eine Gesellschaft, in der das Unwohlsein von Menschen nicht wahrgenommen wird und eine Gesellschaft, in welcher die Lautesten diejenigen sind, die am meisten gehört werden, ist zum Scheitern verurteilt.

 

Wir gehen nicht unter in den Niederlagen, sondern in den Auseinandersetzungen, die wir nicht führen.“

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