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Straumanns Fokus am Wochenende - Demokratie à la carte

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦   

KOMMENTAR

 

Sechs Wochen sind vergangen seit meinem letzten «Fokus». Was hat sich seither getan? Die Früchte der Bauern sind verdorrt, die Felder ausgetrocknet, in der Ukraine wird weiter geschossen, und Europa geht einer möglicherweise dramatischen Energiekrise entgegen.

 

Aber statt Massnahmen zu ergreifen, verlegt sich die Politik auf das Prinzip Hoffnung. Es scheint, der Bundesrat sei an einem heissen Sommertag eingenickt. Peter Bodenmann bringt es in seiner Kolumne in der «Weltwoche» (Nr. 34, letzte Woche) auf den Punkt: Schlafwagen 1 bis 4. Im ersten döst Viola Amherd, die nicht um die Energieversorgung ihrer Armee kämpft, sondern um ihren Tarnkappenbomber. Zweifelhaft, ob der helfen kann. Im zweiten träumt Simonetta Sommaruga von erhöhten Staumauern (bei Stauseen auf markantem Pegeltief) und neuen Gaskraftwerken, obwohl wir keine Speicher haben. Im dritten schlummert Guy Parmelin, denn es hat ihn nicht aufgeschreckt, dass er schon im August 20 Prozent der Heizöl-Pflichtlager freigeben musste. Und im Schlafwagen vier schlafen die mit Energiefragen befassten parlamentarischen Kommissionen den Schlaf der Gerechten.

 

Anderswo geht es nicht besser. In Deutschland spielen die drei Partner der Ampel-Koalition Schwarzer Peter und schieben sich gegenseitig Schuld zu. Ein so kluger Mann wie Vizekanzler und Wirtschaftsminister Habeck muss, nach offensichtlicher Fehlleistung bei der Gas-Umlage (weil diese vor allem die Milliardengewinne der grossen Energiekonzerne vermehrt hätte) bekennen, der Fehler sei ihm unterlaufen, weil er schlicht nicht gewusst habe, «wie dieser Gasmarkt verflochten» sei. Statt dass ihn jemand gewarnt hätte, beüben sich seine Koalitionspartner SPD und FDP in Häme – offenbar kommt es ihnen gelegen, dass der mit Abstand beliebteste Politiker jetzt auch sein Fett abkriegt. Dagegen insinuieren die von den Verbraucherzentralen vorgelegten Zahlen, alles käme gar nicht so arg, denn die Gasspeicher seien überplanmässig gefüllt.

 

Gemessen am Handlungsbedarf (echte Werte zur Energieverknappung in Deutschland gibt es hier: https://youtu.be/YSFy_8sOwa8) ist die Passivität unfassbar. Die Politik steckt den Kopf bis zur Schulter in den Sand. Weshalb?

 

Weil kaum eine Politikerin und kein Politiker sich getraut, dem Bürger die Wahrheit zu sagen. Denn die Wahrheit ist das Totalversagen der westlichen Sanktionspolitik gegen Putin. Die Sanktionen haben nicht Putin in die Krise gestürzt, sondern Europa, von Polen bis Portugal. Statt dass sie Putin in die Enge getrieben hätten, haben sie seine Kriegskasse gefüllt. Nicht die russische Wirtschaft steht vor dem Kollaps, sondern die europäische. Putins Krise ist allenfalls militärischer Art, aber auch hier spielt ihm die Zeit in die Karten: dass die Fronten stocken, kommt ihm entgegen. Die Zeit läuft für Putin.

 

Jede vernünftige Politik müsste unter den gegebenen Umständen den Fehler einsehen und den Kurswechsel ausrufen. Kein Zweifel, dass sie die begangenen Irrtümer längst erkannt haben, aber was tun sie? Sie dürfen sie nicht zugeben. Denn sie zuzugeben würde bedeuten, den transatlantischen Schulterschluss mit den USA in Frage zu stellen. Und Joe Biden braucht die Sanktionen, um vor den Mid-Term-Wahlen im November gegenüber den Republikanern den starken Mann markieren zu können. Deshalb lässt sich Europa von doppelter Seite durchs Dorf treiben: Von Putins Aussen- und von Bidens Innenpolitik. Europa in der Wirtschaftskrise, noch dazu unterlegt mit einem peripheren Kriegsgeschehen, war schon immer gut für die amerikanische Industrie.

 

Wie immer, wenn die Politik versagt, gibt sie statt Lösungen Durchhalteparolen. Gegenwärtig lauten sie: Es geht um Demokratie oder Diktatur, deshalb müssen wir stark bleiben. Deshalb müssen wir Opfer bringen.

Ja, müssten wir, wenn dem tatsächlich so wäre. Aber diese Parolen sind Zweckpropaganda, gestrickt nach dem Muster aus dem Vietnamkrieg: Die westliche Freiheit wird am Ho-Chi-Minh-Pfad verteidigt. Ein Schwachsinn, heute wie damals; ebenso wenig wie damals in Vietnam geht die Demokratie heute am Dnjepr oder im Donbass unter. Wer die Demokratie schützen will, wehrt sich in unserem politischen Alltag gegen den Rechtspopulismus und die neoliberalen Machtkonstrukte der Grosskonzerne. Sie wird verteidigt im Kampf gegen den Lobbyismus in Brüssel und in Washington.

 

Wenn Demokratie für Durchhalteparolen beigezogen wird, dann bitte nicht für eine Demokratie à la carte, sondern für eine echte und unteilbare. Die Ukraine war von 1917 bis 1989 sowjetisch, und es hat unsere Demokratie nicht gefährdet. Der Ausgang des gegenwärtigen Krieges wird das politische System der USA weder verbessern noch verschlechtern, und er wird die Demokratie dort, wo sie noch einigermassen funktioniert (in den meisten europäischen Staaten) nicht aus den Angeln heben.

 

Die Sanktionen, denen wir uns offenbar unterziehen müssen, haben sehr wenig mit unserer Solidarität mit der Ukraine zu tun, dafür sehr viel mit der transatlantischen Solidarität mit den USA. Wo bekanntlich nicht immer alles sehr demokratisch zugeht. Unsere Politiker und unsere Medien halten die Mär aufrecht, Amerika sei (wie im 18. Jahrhundert) noch immer ein Leuchtturm der Demokratie. Wie wenn die USA nicht die schlimmsten Militärdiktaturen ins Leben gerufen und am Leben erhalten hätte. Wie wenn Amerika nicht am 6. Januar 2021 haarscharf an einem Putsch vorbeigeschrammt wäre. Wie wenn die USA etwas anderes wären, als was sie sind: nämlich eine Oligarchie.

 

 

 

 

Seit über einem Jahr finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der «Mittelländischen» Woche für Woche einen Kommentar von Dr. Reinhard Straumann. Mal betrifft es Corona, mal die amerikanische Aussen-, mal die schweizerische Innenpolitik, mal die Welt der Medien… Immer bemüht sich Straumann, zu den aktuellen Geschehnissen Hintergründe zu liefern, die in den kommerziellen Medien des Mainstream nicht genannt werden, oder mit Querverweisen in die Literatur und Philosophie neue Einblicke zu schaffen. Als ausgebildeter Historiker ist Dr. Reinhard Straumann dafür bestens kompetent, und als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen eingesetzt. Wir freuen uns jetzt, jeweils zum Wochenende Reinhard Straumann an dieser Stelle künftig unter dem Titel «Straumanns Fokus am Wochenende» in der DMZ Mittelländischen Zeitung einen festen Platz einzuräumen.  

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