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Wie historische Präzedenzfälle die Erkennung der Übertragung von COVID-19 durch die Luft behinderten

DMZ – GESELLSCHAFT / LEBEN ¦ Peter Metzinger ¦     

 

Während das SARS-CoV-2-Virus im Jahr 2020 unsichtbar über die Luft in Krankenhäusern, Kirchen, an Arbeitsplätzen und in Restaurants Menschen infizierte, konzentrierten sich die Menschen weltweit auf die Desinfektion von Oberflächen und das Waschen ihrer Hände. Viele Regierungen und Unternehmen installierten Plexiglasbarrieren, die die Ausbreitung des Coronavirus sogar noch verstärkten, so Jose-Luis Jimenez, Hauptautor einer neuen umfassenden historischen Bewertung grosser medizinischer Fehler bei der Übertragung von Krankheiten, die jetzt in der Zeitschrift Indoor Air veröffentlicht wurde.

"Die Geschichte hat uns eine schlechte Reaktion auf die Pandemie beschert", so Jimenez, Mitarbeiter am Cooperative Institute for Research in Environmental Sciences (CIRES) und renommierter Professor für Chemie an der Universität von Kalifornien in Boulder. "Wir hätten Millionen von Todesfällen und Hunderte von Millionen von Fällen weniger haben können, wenn wir von Anfang an angemessene und wirksame Massnahmen ergriffen hätten.

Die Übersicht, die zusammen mit Kollegen aus 10 Ländern verfasst wurde, beleuchtet die oft tödlichen Auswirkungen des "Beharrungsvermögens auf Überzeugungen", bei dem es Jahre oder Jahrzehnte dauern kann, eine Reihe von Überzeugungen in Frage zu stellen - vor allem, wenn die Meinungsänderung mit hohen Kosten verbunden ist. Es ist weniger kostspielig, die Menschen aufzufordern, sich die Hände zu waschen oder Oberflächen zu desinfizieren, als zum Beispiel ein Belüftungssystem zu erneuern oder Schulklassen, Stadtbusse und Vorstandsetagen von Unternehmen umzugestalten.

Die Autoren, zu denen Ärzte, Virologen, Spezialisten für öffentliche Gesundheit, Aerosolwissenschaftler, Ingenieure, Historiker, ein Soziologe und ein Architekt gehören, führen zahlreiche Beispiele für fatale Fehler in der Geschichte der Forschung über Infektionskrankheiten an. So wies 1847 ein in Österreich tätiger Wissenschaftler nach, dass Händewaschen durch Ärzte das tödliche Kindbettfieber in einer Klinik reduziert. Seine Arbeit wurde abgetan, weil man damals nach gängiger medizinischer und wissenschaftlicher Meinung "ein Miasma in der Luft" dafür verantwortlich machte. Händewaschen machte für das Establishment keinen Sinn, und die Vermutung, dass Ärzte selbst Krankheiten verbreiten könnten, beleidigte viele.

Ein halbes Jahrhundert später machte sich ein anderer prominenter Forscher, Charles Chapin, über die Vorstellung von gespenstischen Miasmen oder infizierter Luft lustig. Chapins eigene Arbeit über Infektionen hatte ihm nahe gelegt, dass die meisten Infektionen durch "Kontaktinfektion" verbreitet werden. Er wusste aber auch, wie schwierig es war, die Menschen davon zu überzeugen, sich die Hände zu waschen und Oberflächen zu desinfizieren, wenn sie glaubten, einige Krankheiten könnten sich über die Luft verbreiten, und wie schwierig es sein würde, herauszufinden, wie man die Luft selbst reinigen könnte. So argumentierte er mit seiner Theorie der "Kontaktinfektion" ohne Beweise und schaffte es, die Übertragung von Krankheiten durch die Luft als Aberglauben abzustempeln.

Jimenez und seine Co-Autoren zeichnen die Geschichte der Krankheitsübertragung von Chapin bis zum Jahr 2020 nach, als die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Zentren für Seuchenkontrolle und -prävention (CDC) und andere Institutionen grosse Skepsis äusserten oder ganz leugneten, dass sich SARS-CoV-2 über die Luft verbreiten könnte, obwohl sich die Beweise dafür häuften, dass dies der Fall war.

Dies auch noch dann, als weltweit mit „Covid Is Airborne“ eine Bewegung entstand, die die WHO zu einer Änderung ihrer Position und zur Aufklärung der Öffentlichkeit über die wissenschaftlichen Fakten aufforderte. (Bemerkung: Der Autor half mit, diese Organisation zu gründen und setzte sich aufgrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse schon früh in der Schweiz für Massnahmen gegen die Aerosolausbreitung ein.)

Jimenez sagt, er glaube, dass die meisten Leute bei der WHO und der CDC Anfang 2020 ehrlich skeptisch waren und sich nur schwer mit der Tatsache anfreunden konnten, dass die herkömmliche Denkweise über die Übertragung von Atemwegsinfektionen - die Ausbreitung durch schwere Tröpfchen, die auf Oberflächen fallen - möglicherweise nicht ausreicht, um die Pandemie zu erklären.

"Sie hingen an der Theorie fest und verzerrten die Interpretation der Beobachtungen, damit sie zu ihren bereits bestehenden Überzeugungen passten", so Jimenez.

Andere haben die Vermutung geäussert, dass - ähnlich wie beim Klimawandel - auch wirtschaftliche Aspekte eine Rolle gespielt haben.

Es ist bequem, Einzelpersonen zu kleinen, individuellen Massnahmen wie Händewaschen und weniger Autofahren aufzufordern, so Jimenez. Für Institutionen ist es teurer, strukturelle Veränderungen vorzunehmen, wie etwa die Belüftung überall zu verbessern oder die Infrastruktur für fossile Brennstoffe durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Parallelen zur Bekämpfung des Klimawandels drängen sich auf. 

Auch bei dieser Krise ist es einfacher, beim Individuum Verhaltensänderungen einzufordern, als die gigantischen Aufgaben anzupacken, die auf die Menschheit warten, um sämtliche Aktivitäten zu defossilisieren, um die erneuerbaren Energien massiv auszubauen und fossilen Kohlenstoff durch Kohlenstoff zu ersetzen, der aus der Luft rezykliert wurde.

Um sich auf die nächste Pandemie intelligent vorzubereiten, suchen Jimenez und seine Kollegen zunächst Verbündete, insbesondere in den hart arbeitenden Berufen der Medizin und des öffentlichen Gesundheitswesens, wo viele Menschen zu sehr damit beschäftigt sind, Leben zu retten, um sich an der Diskussion über die Übertragung von Krankheiten zu beteiligen, aber über direkte Erfahrungen verfügen.

"Und Konfrontation ist auch nötig, wenn wichtige Institutionen sich weigern, die Wissenschaft zu akzeptieren und sie klar zu kommunizieren", fügte Jimenez hinzu. "Vielleicht müssen wir das Establishment ein wenig ärgern, wie es Florence Nightingale getan hat".

Nightingale setzte sich jahrzehntelang bei der britischen Regierung dafür ein, ihre Reformen in Krankenhäusern zu unterstützen, indem sie die Hygiene, die Belüftung und die Abstände zwischen den Betten zu einer Zeit verbesserte, als dies noch als unnötig angesehen wurde. 

Übersetzt von www.sciencedaily.com/releases/2022/09/220902122738.htm und ergänzt mit eigenen Kommentaren zu Covid Is Airborne und der Klimakrise.

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