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Gutachten gut - alles gut?

DMZ – MEDIZIN / WISSEN ¦ Dr. med. Maja Strasser  

KOMMENTAR

 

Im März 2022 wurde ein externes Gutachten zur Krisenbewältigung der Pandemie im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit von Interface und Infras veröffentlicht. Interface ist ein „Kompetenzzentrum für COVID19-Evaluationen“, welches auch schon das Krisenmanagement der Kantone Bern und Glarus evaluiert hatte.

 

Zeitraum der Analyse ist der Beginn der Pandemie bis Ende Juni 2021. Die Beurteilung fällt insgesamt sehr positiv aus:

 

„Bund und Kantone haben meist angemessen und, von Ausnahmen abgesehen, zeitgerecht auf die Covid-19- Bedrohungslage reagiert. Das BAG hat den Auftrag, die Bevölkerung zu schützen, sehr ernst genommen. Auch die Kantone, die Städte und Gemeinden sowie die Institutionen der Gesundheitsversorgung haben sehr viel geleistet, um die Menschen zu schützen und um die Bedrohung durch das Virus in den Griff zu bekommen. Im Kern der medizinischen Versorgung war die Schweiz erfolgreich: Das System ist nicht zusammengebrochen und es mussten – soweit bekannt – wegen Covid-19 nie Patienten/-innen auf den Intensivstationen triagiert werden.“

 

Das Debakel der zweiten Welle, wo die Schweiz, bei wirksamen, sicheren Impfungen sozusagen in Sichtweite, zu einem weltweiten Hotspot wurde, wird folgendermassen thematisiert:

„Viele Kantone haben in der zweiten Welle mit Massnahmen zugewartet. Es zeigte sich das Dilemma, dass die Anordnung von Massnahmen mit der Übernahme von Kosten verbunden sein kann. Verzögerungen sind auch dadurch zustande gekommen, dass sich die Kantone nicht auf Massnahmen einigen konnten. Dazu kam, dass das BAG bezüglich Verfügbarkeit von Daten weit weg vom Ziel war, die Massnahmen basierend auf Echtzeitdaten anpassen zu können. Verschiedene Faktoren waren somit dafür verantwortlich, dass der Bund und auch die Kantone nicht zeitgerecht auf die Bedrohung im Spätsommer 2020 reagierten, was in der Schweiz zu einer im internationalen Vergleich hohen Übersterblichkeit führte.“

Hm. Klingt nicht so schlecht, oder? Aber, und das ist ein ganz zentrales Aber:

die Hochinzidenzstrategie, welche die Schweiz und die meisten westlichen Länder gewählt hat, ist nicht Gegenstand des Gutachtens. Ebensowenig wird diskutiert, ob die Auslastung der Intensivstationen als zentraler Richtwert sinnvoll ist.

„Der Gegenstand der Evaluation war die Pandemieplanung sowie die Zweckmässigkeit und Wirksamkeit der gesundheitlichen Massnahmen zur Verringerung der Ausbreitung des Coronavirus.“ 

 

Mir kommt das vor, wie wenn ein Fussballteam in einem Spiel nur ein Eigentor schiesst und dann mit einem Auftragsgutachten eingehend Präzision und Raffinesse dieses Treffers analysieren lässt - aber den nicht ganz unwichtigen Umstand, dass es sich eben um ein Eigentor handelt, nicht untersuchen lässt!

 

Ein ergebnisoffenes, kritisches, umfassendes Gutachten durch unabhängige Experten würde die Regierung unter Druck setzen, ihr Vorgehen endlich anzupassen, und zukünftige Pandemien besser zu bewältigen! 

 

Grundsätzlich gibt es ein ganzes Spektrum an Möglichkeiten, mit einer Pandemie umzugehen, von der Niedrig- bis zu Hochinzidenzstrategie. Im Extremfall werden, wie von der „Great Barrington Declaration“ vorgeschlagen, lediglich Risikopersonen gezielt geschützt, während die restliche Bevölkerung durch Ansteckung natürliche Immunität erlangen soll. 

Die Probleme der Hochinzidenzstrategie sind vielfältig: 

  • Die hohe Infektionsaktivität führt zu enorm viel vermeidbarem Leiden, Tod und chronischer Krankheit.
  • Ein gezielter Schutz der Risikogruppen ist so unmöglich wie eine „pippifreie Bahn im Swimmingpool“, wie Professor Oliver Johnson treffend sagte.
  • Die Risikopersonen quasi wegzusperren und nicht am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen, ist zutiefst diskriminierend.
  • Da ein Teil der Bevölkerung (eher einkommensstark) sich zurückzieht, um das Risiko zu reduzieren, schadet ein hohes Infektionsgeschehen der Wirtschaft.
  • Durch krankheitsbedingte Arbeitsausfälle, zunehmende Behinderung und chronische Krankheiten wird die Wirtschaft nachhaltig geschädigt.
  • Mit einer Hochinzidenzstrategie verliert ein Land das Vertrauen von Touristen, Kongressveranstaltern, Konzernen etc., die Regionen mit Niedriginzidenzstrategie vorziehen.
  • Hohe Inzidenzen zu stabilisieren ist schwieriger als tiefe Fallzahlen tief zu halten, deswegen sind dazu mehr einschneidende Massnahmen nötig (man denke an den relativ unbeschwerten Sommer 2020… wenn man nicht viel zu stark gelockert hätte, wären wir weit besser durch den Winter gekommen!).
  • Viele zirkulierende Viren führen zu zahlreichen Mutationen, was die Pandemie verlängert.
  • Herdenimmunität ist bei einem rasch mutierenden Virus wie SARS-CoV-2 eine Utopie.
 
Fazit: eine Hochinzidenzstrategie ist schlechter für die öffentliche Gesundheit, die Wirtschaft, die Lebensqualität - und die Pandemie wird dadurch verlängert.
Eine Hochinzidenzstrategie ist im Interesse der grossen Steuerzahler, weil Massnahmen Steuergelder kosten, und wird deswegen von Economiesuisse oder im Fall der Great Barrington Declaration von einem libertären Think Tank, der durch das Öl- und Chemiekonsortium Koch finanziert wird, propagiert. Ausserdem dient eine Hochinzidenzstrategie Populisten, die von Not und Verunsicherung profitieren. 

 

Schon zu Beginn haben Experten gewarnt, dass nicht nur Alte und Kranke durch SARS-CoV-2 bedroht sind, sondern dass alle Langzeitfolgen erleiden können. Dies bewahrheitete sich noch schlimmer als anfänglich befürchtet. Etwa 20% der durch Wildtyp oder Delta Infizierten erleiden Long Covid, und nach Covid treten zahlreiche Folgekrankheiten gehäuft auf, u.a. Lungenembolie, Herzinfarkte, Herzrhythmusstörungen, Herzversagen, Diabetes mellitus, Schlaganfälle inkl. Hirnblutungen, Nierenversagen…

die Folgen zeigen sich jetzt und werden in den nächsten Jahren noch gravierender: deutlicher Anstieg der Krankenkassenprämien, Verschärfung des Fachkräftemangels vor allem im Gesundheitswesen, in der Bildung und im Tourismus, anhaltende Übersterblichkeit und zunehmende Belastung der Sozialversicherungen (man schätzt, dass es in der Schweiz aktuell etwa 300‘000 Personen mit Long Covid gibt!). 

 

 

Nun wird von der „endemischen Phase“ gesprochen, übelste Augenwäscherei. Endemische Krankheiten sind z.B. Malaria, Tuberkulose oder HIV. Sie treten definitionsgemäss nicht in Wellen auf, und sie sind alles andere als harmlos.

SARS-CoV-2 ist weit davon entfernt, endemisch zu sein, und wir müssen einen Übergang in eine Endemie verhindern!

Dass man eine Pandemie möglichst früh in den Griff bekommen sollte, ist sozusagen das kleine Einmaleins der Epidemiologie. Niemand würde ernsthaft behaupten, wenn Ihr Christbaum brennt, wäre es gleich gut, sofort mit einem Eimer Wasser zu löschen, wie zuerst mal besorgt zu beobachten, bis sich der Brand im ganzen Land ausgebreitet hat!

 

Nun, wie könnte man eine Pandemie unter Kontrolle bringen? Asien hat vor zwanzig Jahren SARS durchgemacht und daraus viel gelernt. 

Z. B. Japan: 

  • Japan hat seit 02/20 in Prävention auf Aerosole gesetzt: Masken, und gesunde Raumluft. Wenn Sie in Japan ins Restaurant gehen, können Sie per App das mit der besten Raumluft wählen! Vor jedem Kinosaal gibt es eine Anzeige der Luftqualität (natürlich immer in grünen Bereich).
  • Plus hervorragendes contact tracing,
  • staatliche Nahrungsmittelpakete bei Isolation, und
  • hohe Impfquote. 

Da ein Lockdown aufgrund der japanischen Verfassung nicht möglich ist, gab es zu Beginn kurze regionale Shutdowns. Durch die Massnahmen konnte die Inzidenz dann so weit kontrolliert werden, dass keine Shutdowns mehr nötig waren. Insgesamt hatte Japan relativ milde Massnahmen.

Japan hat mit diesem Vorgehen 10x weniger Covid-19 Tote als die EU, ohne dramatische  Einschränkungen. 

 

Letztlich ist „mit dem Virus leben“ ein Desaster in jeder Hinsicht, welches uns noch Jahrzehnte (und viele Betroffenen ihr Leben lang!) beschäftigen wird.

 

Wir müssen endlich von Ländern wie Japan lernen, wie man mit einem Bündel klug zusammengestellter, effizienter Massnahmen die Pandemie in den Griff bekommt! Aber dafür müsste die Regierung Selbstkritik üben, was durch solche massgeschneiderten Auftragsgutachten leider verhindert wird.

 

 

Balthasar, Andreas; Essig, Stefan; von Stokar, Thomas; Vettori, Anna; von Dach, Andrea; Trageser, Judith; Trein, Philipp; Rubinelli, Sara; Zenger, Christoph; Perrotta, Maria; Weiss, Günter (2022): Evaluation der Krisenbewältigung Covid-19 bis Sommer 2021. Executive Summary zum Schlussbericht zuhanden des Bundesamts für Gesundheit, Fachstelle Evaluation und Forschung (E+F), Luzern, Zürich, Bern.

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