Der verschwundene Kamin

DMZ –  BLICKWINKEL ¦ Ruedi Stricker ¦                   

An schulfreien Nachmittagen häufen sich seltsame Ereignisse. So auch an jenem Tag, als das seit Jahren leerstehende Aussichtsrestaurant am Waldrand von uns zum Schauplatz einer Polizistenjagd auf Räuber erkoren wurde.

Der Autor, damals ein geübter und schwindelfreier Kletterer, flüchtete vor dem Zugriff der Gesetzeshüter aufs Dach hinauf. Allerdings war er auch hier seiner Freiheit nicht lange sicher. Ob ein heruntergefallener Ziegel oder der Scharfsinn seiner Verfolger ihn verriet, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Jedenfalls schickte sich einer der Verfolger an, ebenfalls auf das morsche Dach zu klettern, um den Flüchtigen in Gewahrsam zu nehmen und dem Marterpfahlverwalter zu übergeben.

Als der Verfolgte das Gesicht seines Widersachers über der Dachrinne erspähte, blieb ihm nichts anderes übrig, als Hals über Kopf über den Dachfirst auf die andere Seite zu gelangen und dort zu überlegen, wie er unentdeckt und heil zum Erdboden zurückfinden könnte. Leider blieb ihm wenig Zeit dafür: Er rutschte plötzlich auf den Schneeresten aus und verlor beim Abwärtsrutschen rasch die Kontrolle über den Hosenboden.

Glücklicherweise befand sich fast genau in der Falllinie eine alter Kamin. Es gelang dem Verzweifelten tatsächlich, sich daran festzuhalten in der Hoffnung, so den drohenden Absturz abzuwenden. Allerdings nicht lang. Der morsche und nicht für solche Umarmungen gemauerte Kamin löste sich ebenfalls, worauf das ungleiche Paar unter heftigem Getöse auf der Erde landete. Der Räuber überlebte mit ein paar Kratzern und wurde daraufhin von seinen Verfolgern respektvoll begnadigt.

Nun hatten nicht nur Schulkinder, sondern auch ein gewisser Zeichenlehrer B. an diesem alten Haus Gefallen gefunden. Und so kam es, dass B. mit seiner Klasse wenige Wochen nach dem oben geschilderten Vorfall vor dem Bellevue stand und verdutzt meinte: «Ich hätte schwören können, dass da oben ein Kamin war.»