Der Einkaufstourist – ein sozialpsychologisches Phänomen

DMZ –  BLICKWINKEL ¦ Ruedi Stricker ¦                    

 

Er ist weder ideologisch noch demografisch fassbar. Hobbysoziologen stellen ihn in die gleiche Ecke wie Selbstmordattentäter und Kinderschänder. Der Einkaufstourist als soziales Phänomen wurde jetzt erstmals vom Güttinger Institut für ökonomische Soziologie einer wissenschaftlichen Arbeit unterzogen und in Form einer griffigen Typologie dargestellt.

 

Der stille Wütende

In der Jugend hat er von Freiheit geträumt, im Studium von Marktwirtschaft. Jetzt lebt er seine Wut auf Marktabschotter, vollgefressene Importeure und deren Helfer in Bern still mit dem Geldbeutel aus. Er kauft nicht nur Billigeres im Ausland ein, sondern alles – auch wenn es teurer ist. Jeder Liter Sojamilch aus Feldkirch bedeutet für ihn einen Liter weniger Kuhmilch im Toggenburg. Er träumt nicht mehr von Freiheit und Markt, sondern von ehemaligen Grenzwächtern, die jetzt in einem Steinbruch einer Arbeit nachgehen.

 

Der geile Geizige

Effizientes und strukturiertes Vorgehen zeichnen sein Vorgehen aus. Dazu ein Beispiel:

  1. Identifizieren eines blöden Einkaufstouristen im Quartier, der demnächst nach Konstanz fährt und noch einen freien Sitzplatz im Auto hat.
  2. Reservieren dieses Sitzplatzes sowie 120 Liter Volumen im Kofferraum.
  3. Gemeinsame Abfahrt unter Mitnahme von 4 vollen Abfallsäcken à 35 Liter.
  4. Grenzübertritt und Entladen der 4 Säcke am Strassenrand.
  5. Erwerb von 69 Flaschen Haarshampoo im mehrwertsteuerbereinigten Wert von Fr. 297.—samt Ausfuhrbestätigung
  6. Abstempeln des Ausfuhrscheins am Zoll.
  7. Rückfahrt und Entschädigung des Fahrers mittels einer Flasche Haarshampoo.

 

Der wilde Abenteurer

Seit normale Sekundarlehrer kiffen, sind Drogen langweilig. Am Zoll hingegen wartet ein ganz heisses Game. Mit einem Pokerface drei Kilo Schweinswürste verschweigen, obwohl fünf Autos weiter vorn ein Schäferhund schnüffelt, braucht eiserne Nerven. Oder das Spiel mit den teuren Schuhen: Am Zoll abstempeln, an der Schlange vorbeimarschieren und noch vor der Türe die neuen Schuhe anziehen, Ausfuhrschein diskret in die Socken, dann mit Pokerface heim in die Schweiz. Alles in Allem ein Schwerverbrechen, aber mangels Opfer ein moralisch vertretbares Vergnügen.

 

Der humanitäre Helfer

Er weiss, dass die EU eine Totgeburt ist. Sein Mitleid mit den versklavten Bürgern dieser blockierten Entwicklungsländer treibt ihn jedes Wochenende über die Grenze, wo er Almosen verteilt. Um die Bettler und Händler einen Rest an Würde wahren zu lassen, nimmt er hin und wieder eine Tube Zahnpasta oder eine Schweizer Schokolade entgegen. Seinem Göttibub in Mecklenburg-Vorpommern schickt er regelmässig Fresspäckli, weil es dort keine richtigen Lebensmittel gibt.

 

Der senkrechte Patriot

Er kauft nur Schweizer Produkte – auch im Ausland. Überraschen mag, dass seine Denkweise weniger von chauvinistischem Gedankengut als von einer aufgeklärten Offenheit geprägt ist. Er kann beispielsweise gut damit leben, dass Schweizer Schokolade aus afrikanischen Kakaobohnen in der EU produziert wird, solange dies unter Schweizer Kontrolle geschieht. Und abgesehen davon: Wer wäre so blöd und würde sich in München mit gebleichten Würsten und seltsamem Gebäck den Magen verderben, wenn es dort richtige Schweizer Schoggi zu kaufen gibt? Und das erst noch viel billiger als zu Hause?

 

Der kritische Spion

Ob er im Rotlichtmilieu um die Ecken schleicht oder auf dem Lidl Parkplatz prominente Schweizer fotografiert – die Motivation ist dieselbe: Tiefe Sorge um das moralische Befinden der Gemeinschaft, gepaart mit der eigenartigen Faszination des Verruchten. Wenn er bei Lidl einkauft, dann nur in der Schweiz. Es geht schliesslich um Arbeitsplätze, Wertschöpfung und Steuersubstrat. Seine Fahrten ins nahe Ausland finanziert er nicht mit Währungsgewinnen. Sie gehen eher auf das Konto «Idealismus» (abgesehen von den achtzig Franken, die ihm die Redaktion einer Tageszeitung für ein Föteli von einem Schweizer Nationalrat an einer OBI Kasse in Überlingen überwiesen hat).

 

IOS Institut für ökonomische Soziologie

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