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Straumanns Fokus am Wochenende - Wo liegt eigentlich die Ukraine?

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦   

KOMMENTAR

 

Auf verschlungenen Pfaden und mit geheimen Transportmitteln weibelte Wolodimir Selenskyj Mitte dieser Woche nach Washington, hin und zurück in nicht mehr als 30 Stunden. Er hatte dort zwei grosse Auftritte: einerseits bei Joe Biden, der den Kommunikationskünstler eingeladen hatte, um – das ist das andererseits – vor dem Kongress der geschundenen ukrainischen Seele zur effektvollen Inszenierung zu verhelfen. Ziel war es, noch im alten Jahr – solange der Kongress noch in alter Besetzung tagt, also mit demokratischer Mehrheit – die Finanzierungsbeschlüsse für weitere Waffenlieferungen an die Ukraine durch das Parlament zu jagen. Es geht um nicht weniger als 45 Milliarden Dollar für eine Planungsphase bis September 2023, nachdem im bisherigen Verlauf seit Kriegsbeginn bereits 68 Milliarden aufgelaufen sind. Die amerikanischen Steuerzahler (die allerdings nicht gefragt werden…) geben also über 20 Monate hinaus insgesamt 113 Milliarden Dollar für ein Land aus, von dem der Durchschnittsamerikaner keinen Schimmer hat, wo es liegt.

 

Wir können ihm, dem Durchschnittsamerikaner, auf die Sprünge helfen. Die Ukraine liegt dort, wo es den Russen weh tut. Ohne die Ukraine ist Russland eine asiatische Regionalmacht, mit der Ukraine wäre es eine eurasiatische Grossmacht. Viele amerikanische Militärberater, von Brzesinski bis Kissinger, haben deshalb über Jahrzehnte ihren Präsidenten ein strategisches Konzept empfohlen, das darauf hinarbeiten sollte, die Ukraine zu neutralisieren. Das hätte geheissen, auch von amerikanischer Seite die russischen Sicherheitsbedürfnisse ernst zu nehmen, vertrauensbildend zu wirken und die Abrüstungsbemühungen, an denen seit den 80er-Jahren intensiv gearbeitet worden war, zum Wohl der Menschheit zu (weiteren) Abschlüssen zu bringen.

 

Weshalb um aller Welt hat man diese Chance verpasst? Man kommt der Wahrheit wohl näher, wenn man nicht fragt, wer von einer solchen Entwicklung profitiert hätte – die ganze Menschheit –, sondern wenn man fragt, zu wessen Lasten sie verlaufen wäre. Die Antwort ist einfach: zu Lasten der amerikanischen Rüstungsindustrie. Diese hat sich, in ihrer heutigen Form, aus den Anfängen heraus entwickelt, die auf die Zeit des Vietnamkriegs zurückgehen. Nach dem Rückzug der Franzosen aus ihrer ehemaligen Kolonie 1954 war dort ein Machtvakuum entstanden, das sich, so fürchtete der kapitalistische Westen, mit kommunistischer Ideologie füllen würde. Um dem entgegen zu wirken, sandten die USA Waffen, Munition, Militärberater, noch mehr Militärberater, noch mehr Waffen. Man entdeckte das Geschäft, das sich aus wohl bewirtschafteten Feindbildern herausschlagen liess. Also propagierte man die Domino-Theorie, die besagte: Wenn Vietnam den Kommunisten in die Hände fällt, dann fallen mit Vietnam der Reihe nach auch Laos, Kambodscha, Burma und überhaupt ganz Hinterindien. Die Freiheit würde am Mekong verteidigt etc.

Alles Lug und Trug.

 

Präsident Eisenhower, obwohl ein ehemaliger Fünfsterngeneral und Kommunistenhasser, hat es kommen sehen und in seiner Abschiedsrede 1960 vor dem «militärisch-industriellen Komplex» gewarnt, der die Demokratie gefährden würde. (Viele Kenner der Umstände sind sich einig, dass sein Nachfolger Kennedy, der dem verstärkten militärischen Engagement in Vietnam sehr skeptisch begegnete, genau aus diesem Grund ermordet worden sei.)

In der Folge hätschelte man die Feindbilder, wozu es während des Kalten Kriegs wunderbar Gelegenheit gab, durch die Gründung und Erweiterung der NATO und weiterer gegen den Ostblock gerichteter Militärbündnisse. Dumm nur, dass 1989 Gorbatschow das Ende der Sowjetunion und des Kalten Kriegs verkündete. Wie sollten jetzt die Menschen vom Rüstungswahn überzeugt werden, als plötzlich die Feindbilder verschwunden waren? Gewiss, 9/11 kam sehr zupass mit den ganzen Folgewirkungen, den Kriegen in Afghanistan und im Irak. Aber dann?

 

Wir normale Zeitzeugen des Geschehens in der Ukraine haben uns von den westlichen Medien vereinnahmen lassen und diskutieren fast ausschliesslich die ideologischen Aspekte. Die gibt es, selbstverständlich. Putin ist ein Verbrecher gegen das Völkerrecht, kein Zweifel. Ist aber deshalb ein globaler Armageddon angebrochen? Ist die Zeitenwende eingetreten mit dem finalen Kampf des Guten gegen das Böse?

 

Sicher nicht. So sehr Putin mit aller Entschiedenheit entgegen zu treten ist, so muss ebenso deutlich festgehalten werden, dass diese Emporstilisierungen des Kriegs zur letzten Schlacht der Christenheit und der westlichen Wertewelt nur einer Sache dienen: der Pflege von Feindbildern. Und diese wiederum den amerikanischen Rüstungsbetrieben, den Lockheed Martin, den Raytheon Technologies, den Northrop Grumman etc. 113 Milliarden in 20 Monaten, ein gefundenes Fressen. Denn diese 113 Milliarden werden die Ukraine nie erreichen, sie fliessen aus der Kasse der Steuerzahler direkt in die Schatullen der grossen Rüstungsanbieter. Insofern ist es von höchst untergeordneter Bedeutung, dass in den USA kaum einer weiss, wo eigentlich die Ukraine liegt. Die Rüstungsbetriebe wissen es: dort, wo das grosse Geschäft zu machen ist. 

 

 

 

 

Seit über einem Jahr finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der «Mittelländischen» Woche für Woche einen Kommentar von Dr. Reinhard Straumann. Mal betrifft es Corona, mal die amerikanische Aussen-, mal die schweizerische Innenpolitik, mal die Welt der Medien… Immer bemüht sich Straumann, zu den aktuellen Geschehnissen Hintergründe zu liefern, die in den kommerziellen Medien des Mainstream nicht genannt werden, oder mit Querverweisen in die Literatur und Philosophie neue Einblicke zu schaffen. Als ausgebildeter Historiker ist Dr. Reinhard Straumann dafür bestens kompetent, und als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen eingesetzt. Wir freuen uns jetzt, jeweils zum Wochenende Reinhard Straumann an dieser Stelle künftig unter dem Titel «Straumanns Fokus am Wochenende» in der DMZ Mittelländischen Zeitung einen festen Platz einzuräumen.  

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