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Straumanns Fokus am Wochenende - Das Bocken der Lämmer

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦   

KOMMENTAR

 

Ein Jahr neigt sich dem Ende zu, das nicht am 1. Januar 2022, sondern erst am 24. Februar begonnen hatte. Nicht nur deshalb wurde es vier Tage danach, am 28. Februar, als ein besonderes ausgerufen. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hielt in einer Sondersitzung des Bundestags aus Anlass des Einmarschs von Putins Truppen in die Ukraine eine Rede, innerhalb derer ihm – respektive seinem Redenschreiber – ein besonderer rhetorischer Coup gelang. Er warf das Wort von der Zeitenwende in die Runde – das Wort, das zehn Monate danach von der DUDEN-Redaktion zum Wort des Jahres gewählt werden sollte.

 

«Zeitenwende» ist mehr als ein Wort. Es ist vielmehr ein Begriff, der eine ganze Geschichte erzählt: ein Narrativ. «Zeitenwende» suggeriert, es sei etwas eingetreten, was wir (damit ist die gesamte westliche Gesellschaft gemeint) nicht gewollt haben, worauf wir jetzt aber gezwungenermassen reagieren müssen. Scholz insinuiert, es werde uns eine Änderung unserer wertebasierten Verhaltensweise aufgezwungen (Frieden, Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Wandel durch Handel), und zwar in Richtung Krieg. Wir haben den Frieden gewollt, und jetzt müssen wir Krieg führen.

 

Damit sagt das Narrativ von der Zeitenwende: Wir waschen unsere Hände in Unschuld. Russland hat den Krieg angefangen, Russland ist schuld. Putin ist ein Neo-Imperialist, ein machtbesessener, irrational handelnder Verbrecher. Russland ist unter diesem paranoiden Führer eine Bedrohung für den Weltfrieden geworden. Wenn wir selbst dabei einen Fehler begangen haben, dann diesen, dass wir zu gutgläubig waren. Wir waren zu wenig auf der Hut, denn eigentlich hätten wir den verbrecherischen Charakter Putins längst durchschauen sollen.

 

Wenn wir diesem Narrativ folgen, dann sind wir durch den Krieg in eine neue Kategorie unserer politischen Ordnung eingetreten. Eine, die alle Beurteilungsfragen ganz einfach macht. Die Verteilung von Recht und Unrecht lässt sich auf die Formel verkürzen: Putin = Hitler. Diese Gleichsetzung wird durch die Geschichtsklitterung in unseren Medien systematisch vertreten, indem diese noch und noch Vergleiche des gegenwärtigen Kriegs mit Hitlers Angriffskrieg von 1939 anstellen, beispielsweise durch die Gleichsetzung der Reden des ukrainischen Präsidenten Selenskyj mit den Reden Churchills, der auch nichts anderes verheissen konnte als Blut, Schweiss und Tränen. Wenn aber Selenskyj Churchill ist, dann ist Putin Hitler. Und dann darf es keinen Kompromiss geben, dann gilt – wie einst gegen Hitler – Churchills und Roosevelts Forderung nach «Unconditional Surrender». Deshalb dürfen wir nicht nachlassen mit unseren Waffenlieferungen, denn wir stehen im Endkampf des Guten gegen das Böse.

 

Um nicht falsch verstanden zu werden (es gibt keinen Zweifel!): Putin ist ein Verbrecher, ein Kriegsverbrecher der übelsten Sorte. Aber zu unterschlagen, dass diese Tatsache im Lichte anderer Tatsachen gesehen werden muss, nämlich einer ganzen Reihe von Provokationen der USA und der NATO seit bald 30 Jahren, dient nicht der Wahrheitsfindung, sondern der Verschleierung unserer Wahrnehmung. Wir sollen glauben gemacht werden, dass nicht ein baldiger Waffenstillstand in der Ukraine anzustreben ist, der diesem sinnlosen Ausbluten zweier Nationen und dem zerstörerischen Wirtschaftskrieg ein Ende setzen würde, sondern die Herabstufung Russland. Mit der Ukraine kann Russland wieder zu einer Supermacht aufsteigen, ohne die Ukraine wird Russland zu einer asiatischen Regionalmacht. Das wäre im Interesse Amerikas. Die europäische Öffentlichkeit soll glauben, dass die Interessen der USA und ihrer Waffenindustrie identisch seien mit den europäischen Interessen.

 

Ebenfalls wahr ist leider, dass es uns heute schlechter geht als zu Beginn des letzten Jahres. Der Krieg setzt auch dem westlichen Europa zu, lässt unsere Abhängigkeit von russischem Erdgas spüren. Die Inflation galoppiert uns davon. Wir müssen mit der beständigen Angst von einer nuklearen Eskalation des Kriegs rechnen (auch wenn dies die westlichen Medien permanent herunterspielen). Insofern kommt dem Wort von der Zeitenwende nachträglich doch noch eine Berechtigung zu. Wenn wir es aber so verstehen, wie es Scholz damals gemeint hat, nämlich: die Wende der Zeiten bestehe darin, dass ein zivilisiertes Volk ein anderes überfällt, dann ist das Narrativ nichts als hohle Propaganda. Hat irgendwer von Zeitenwende gesprochen, als die USA 2003 den Irak überfielen?

 

Allerorten können wir beobachten, wie die westliche Propagandamaschinerie funktioniert (exakt so, wie die russische in Russland). Am vorletzten Tag des Jahres twittert beispielsweise Annette Kurschus, die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland: «Waffen für Ukraine sind Pflicht christlicher Nächstenliebe.»

 

Offenbar sind wir jetzt also tatsächlich wieder an dem Punkt angelangt, wo die Bischöfe die Waffen segnen. Also noch eine Parallele mehr zum Zweiten Weltkrieg… und wie damals trottet die christliche Lämmerherde hinterher, bereit, über jeden Abgrund zu folgen.

 

Warum schweigen die Lämmer?

Wenn ich einen Wunsch frei hätte für das neue Jahr, dann wäre es das Bocken der Lämmer.

 

 

 

 

Seit über einem Jahr finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der «Mittelländischen» Woche für Woche einen Kommentar von Dr. Reinhard Straumann. Mal betrifft es Corona, mal die amerikanische Aussen-, mal die schweizerische Innenpolitik, mal die Welt der Medien… Immer bemüht sich Straumann, zu den aktuellen Geschehnissen Hintergründe zu liefern, die in den kommerziellen Medien des Mainstream nicht genannt werden, oder mit Querverweisen in die Literatur und Philosophie neue Einblicke zu schaffen. Als ausgebildeter Historiker ist Dr. Reinhard Straumann dafür bestens kompetent, und als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen eingesetzt. Wir freuen uns jetzt, jeweils zum Wochenende Reinhard Straumann an dieser Stelle künftig unter dem Titel «Straumanns Fokus am Wochenende» in der DMZ Mittelländischen Zeitung einen festen Platz einzuräumen.  

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