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Straumanns Fokus am Wochenende - Zivilcourage

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦                    

KOMMENTAR

 

Wird das jetzt Mode? Exakt zwei Jahre ist es her, dass ein von Donald Trump aufgehetzter Mob in Washington D.C. das Kapitol stürmte, irregeleitet von der durch gar nichts belegten Lüge, Trumps Abwahl sei einer gigantischen Verschwörung geschuldet.

 

Mit Hilfe einer nach Tausenden zählenden Meute sollte auf Vizepräsident Mike Pence soviel Druck ausgeübt werden, dass dieser die Validierung des Wahlergebnisses im Senat verweigern und den Sieg seinem Chef Trump zusprechen würde. Die Sicherheitskräfte waren entweder nicht präsent oder standen unbeteiligt herum und schauten zu, wie die Menge, berauscht von der eigenen Ignoranz, im Delirium ab der eigenen Gewaltbereitschaft, alles niederwalzte, was sich ihnen in den Weg stellte. Sechs Menschen kamen ums Leben. Trump, der bis zur letztmöglichen Sekunde auf einen Erfolg seines Staatsstreichs hoffte, schaute zu und schlug alle Warnungen in den Wind, eingedenk seines Credos, dass ihm selbst nie etwas passieren könne. Seine Aussage, er könne jederzeit auf dem Times Square einen Menschen erschiessen und es würde ihm nichts geschehen, ist nicht widerlegt. Es ist zu befürchten, dass er recht hat.

 

Zwei Jahre danach haben wir ein ganz starkes Gefühl von déjà-vu. Trumps Spezi Jair Bolsonaro, in Brasilien eben gegen den Sozialdemokraten Lula da Silva abgewählt, hat das Washingtoner Drehbuch abgekupfert und das traurige Spektakel eins zu eins in Brasilia wiederholt. Er stachelte seine Anhänger an, organisierte die Finanzierung und beherzigte Trumps Ratschlag, es sei zu empfehlen, dass er sich halbherzig vom Putsch distanziere, sollte dieser fehlschlagen.

 

So kam es denn auch. Obwohl auch diesmal die Sicherheitskräfte durch Abwesenheit glänzten. Ganz wohl scheint Bolsonaro aber trotzdem nicht gewesen zu sein, denn im Unterschied zu Trump hat er sich vorgängig ausser Landes begeben. Er ist nach Florida ausgereist und hat sich in den Schatten der Türmchen von Trumps Kitschresidenz geflüchtet. Via seinen Sohn Edoardo war der Kontakt zu Trump und dessen oberkrimineller Hofschranze Steve Bannon jederzeit gewährleistet.

 

Bolsonaro und Trump haben beide ungezählte Verfahren am Hals: Steuerdelikte, Korruption, üble Nachrede, sexuelle Nötigung. Beide haben ihren Ländern massiven, unbezifferbaren Schaden zugefügt. Sowohl in Brasilien wie in den USA stehen Millionen Menschen vor der Verelendung nach den Steuergeschenken, die beide den Superreichen machten. Bolsonaro hat das brasilianische Amazonas-Gebiet ausverkauft, indem er sich von der Treibstofflobby von Petrobras hat bestechen lassen, die jetzt auf den Flächen des vormaligen Regenwaldes Soja zur Herstellung von Biodiesel anbauen darf. Das ist nicht nur ein Verbrechen an Brasilien, es ist eines an der Menschheit. Dass Bolsonaro überdies ein gesellschaftlicher Rüpel ist, der die Linken als Müll bezeichnet und einer Abgeordneten zuruft, sie sei es nicht wert, von ihm vergewaltigt zu werden, ist kaum der Erwähnung wert. Es passt zu gut ins Bild.

 

Die Duplizität der Ereignisse wirft die Frage auf, ob wir jetzt damit leben müssen, dass jedesmal, wenn ein Rechtspopulist vom Schlage eines Trump oder Bolsonaro abgewählt wird, das Wahlergebnis bestritten und der Mob mobilisiert wird, um den Staatsstreich zu proben. Wird das jetzt Mode? Wenn Netanyahu abgewählt wird oder Viktor Orban oder Giorgia Meloni in Italien? Oder Marine Le Pen in Frankreich, wenn sie es in vier Jahren doch noch auf den Präsidentenstuhl schaffen sollte?

 

Die Antwort lautet: Zwei Gewalten im Staat müssen verfassungsgemäss funktionieren, damit ein solcher Coup sicher nicht gelingen kann. Erstens geht es um die Frage, in welchem Verhältnis die Sicherheitskräfte, namentlich die Armee, zum Usurpator stehen. Und zweitens ist von entscheidender Bedeutung, ob im betroffenen Land eine starke, unabhängige Justiz vorhanden ist.

 

Nehmen wir den ersten Punkt. Bolsonaro, der ehemalige Hauptmann der Fallschirmjäger und erklärte Armeefreund, spielte mit den Sympathien, die er in Militärkreisen geniesst. Die policìa militar, die für die Sicherheit im Hauptstadtdistrikt zuständig ist, fraternisierte offenkundig mit den Aufrührern, und das Wachbataillon der Armee, das über den Präsidentenpalast wachen sollte, war im Tiefschlaf. Offenbar wollten die Sicherheitskräfte, die auf die Verfassung vereidigt sind, von ihren Verpflichtungen nichts wissen. Weshalb?

 

Erstens: Im Jahr 2014 wurde unter Präsident Luna da Silva (in dessen erster Amtszeit) der Abschlussbericht der Wahrheitskommission über die Militärdiktatur von 1964 bis 1985 veröffentlicht. Dieser Bericht gibt der Armee die Schuld an zahllosen Morden, Folterungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Blossstellung hat die Armee offenbar schlecht verkraftet, was die Loyalität zu einem demokratisch gewählten Staatsoberhaupt linker Ausrichtung untergraben hat.

 

Der zweite Grund ist noch plumper. Bolsonaro hat sich die Loyalität der Streitkräfte (obwohl auch dort, wie man liest, vollkommene Einsicht in Bolsonaros Unfähigkeit herrscht) gesichert, indem er die oberen Kader mit einträglichen Posten versorgte, von 6000 bis 8000 Fällen ist die Rede. Es sei den Offizieren gar nicht um einen Putsch im politischen Sinn gegangen, sondern nur um den Erhalt ihrer Pfründen.

 

Aber einer stellte sich den Aufrührern entgegen (und damit sind wir beim zweiten Punkt, bei der unabhängigen Justiz): Alexandre de Moraes, Präsident des Wahlgerichtshofs und Mitglied des obersten Gerichts. Kein Brasilianer ist bei den Bolsonaristi stärker verhasst als er. Sein Büro wurde am Sonntag während des Platzsturms vom Mob in seine Einzelteile zerlegt. Moraes hat postwendend Ibaneis Rocha, für die Sicherheit zuständiger Gouverneur von Brasilia, suspendiert, ebenso dessen Polizeichef Torres, den früheren Justizminister Bolsonaros. Und er hat am Montag 1500 Aufwiegler verhaften lassen wegen Landfriedensbruch, Sachbeschädigungen, Zuwiderhandlungen gegen die Staatsgewalt. Moraes ist kein Linker. Aber er ist ein Mann mit Zivilcourage. Wenn wir die Demokratie retten wollen, ist das eine unverzichtbare Eigenschaft.

 

 

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Seit 2020 finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der «DMZ» Woche für Woche einen Kommentar von Dr. Reinhard Straumann. Mal betrifft es Corona, mal die amerikanische Aussen-, mal die schweizerische Innenpolitik, mal die Welt der Medien… Immer bemüht sich Straumann, zu den aktuellen Geschehnissen Hintergründe zu liefern, die in den kommerziellen Medien des Mainstream nicht genannt werden, oder mit Querverweisen in die Literatur und Philosophie neue Einblicke zu schaffen. Als ausgebildeter Historiker ist Dr. Reinhard Straumann dafür bestens kompetent, und als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen eingesetzt. Wir freuen uns jetzt, jeweils zum Wochenende Reinhard Straumann an dieser Stelle künftig unter dem Titel «Straumanns Fokus am Wochenende» in der DMZ Mittelländischen Zeitung einen festen Platz einzuräumen.  


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