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Der Vergleich von Marktstrukturen ist lehrreich

DMZ –  POLITIK ¦ Dirk Specht ¦                                 

KOMMENTAR

 

Wenn man das Design von Märkten besser verstehen und weiter entwickeln möchte, lohnt der Blick in andere Märkte, um zu lernen, was dort funktioniert und was nicht.

 

Das WSJ kommentiert hier den Bericht eines großen Versorgers, PJM Interconnection, vergleichbar einer RWE bei uns, der vor Stromausfällen warnt. Unsere Medien hätten „Blackout-Gefahr“ dazu getitelt, obwohl es das auch hier nicht ist. Aber durchaus erhebliche Ausfälle, also lokale Lastabwürfe, werden von PJM befürchtet und das ist zwar kein unkontrollierter Zusammenbruch des Systems, aber für die Betroffenen gewiss nicht die Erwartung an eine sichere Versorgung.

 

Der Strommarkt in den USA ist wie die meisten Märkte dort nur schwach reguliert, was viele in den USA nebenbei bemerkt immer noch ganz anders bewerten. Das System ist recht einfach: Der Staat macht nur wenige Vorgaben, die einzuhalten sind. In dem Fall Umwelt- und Sicherheitsstandards, alles weitere ist Sache der Produzenten. Hinzu kommen immer mal wieder Subventionen von Technologien, sei es auf der Anbieter- oder der Nachfragerseite. So werden Produkte preislich beeinflusst, aber nur begrenzt und eher selten. Insbesondere tiefere Marktstrukturen werden nicht reguliert. Wer die Auflagen erfüllt, darf anbieten. Was die Auflagen erfüllt, darf konsumiert werden. Bei den Kosten beteiligt sich manchmal der Staat, überwiegend aber nicht.

 

Für viele in Deutschland bekanntlich das Musterbeispiel zur Entfesslung aller Marktkräfte. Im Ergebnis, typisch für die USA, ist die Stromversorgung dort alles, von Weltklasse an Technologie bis zu mittelalterlich marode. Regionale Stromausfälle sind keine Seltenheit, Notstromversorgungen haben einen großen Markt, manche Unternehmen betreiben sogar eigene Kraftwerke. Aber es gibt eben auch die modernsten Anlagen, die zudem sehr günstig und zuverlässig versorgen. Einfach alles, was Märkte so zu bieten haben. Preislich liegt Energie dort in der Tat sehr nah an den Erzeugerpreisen, das ist ein Vorteil solcher Strukturen.

 

PJM beschreibt hier vollkommen richtig, was die konkreten Auswirkungen sind: Die Produzenten investieren momentan vor allem in Erneuerbare Energien. Das ist mit aktuellem Stand der Technologie die billigste Erzeugungsform und sie erfüllt alle Auflagen. Einfache Marktlogik an der Stelle. Konventionelle Kraftwerke gehen hingegen zunehmend vom Netz. Hier schummelt PJM ein wenig, denn das passiert nicht, weil die Auflagen nicht mehr erfüllbar sind, sondern weil es zu teuer ist, diese zu erfüllen und weil die Brennstoffe zu teuer geworden sind. Diese Anlagen lohnen sich also ökonomisch nicht mehr. Ebenso einfache Marktlogik. Im Ergebnis wird aber der eine Markttrend – Aufbau Erneuerbarer – den anderen – Abbau Kraftwerke – nicht kompensieren, so dass vorübergehend zu wenig Erzeugungskapazitäten zu erwarten sind.

 

Das wird im Detail alles noch komplizierter, weil sich auch niemand ausreichend um die Netzinfrastruktur kümmert, so dass die zukünftige Verteilung von Produktionsstandorten, die insbesondere in den für Erneuerbare günstigen Zonen passiert, die Engpässe in anderen Zonen nicht beheben kann. PJM selbst sitzt übrigens selbst in einem Gebiet, das wenig Produktionskapazität für Erneuerbare bietet und profitiert davon, dass man bisher mit den eigenen konventionellen Kapazitäten Strom in andere Zonen verkaufen konnte, die zukünftig sogar eigene Überschüsse zu erwarten haben. Das PJM-Geschäftsmodell ist also mehrfach gefährdet, weshalb man so einen Bericht natürlich differenzierter als das WSJ bewerten darf.

 

Was aber richtig ist: So eine Marktstruktur wie in den USA wird immer dazu führen, dass Innovation und Verharrung gleichzeitig stattfinden. Es wird immer Akteure geben, die nicht im Markt sind oder neue Möglichkeiten für sich entdecken und daher Innovationen voran treiben. Es wird aber auch immer Akteure geben, die im Wesentlichen die Bewahrung ihrer Geschäftsmodelle betreiben. Bei einem trägen Markt wie dem Energiesektor wird es also gerade bei Transformationsprozessen zwischen diesen Akteuren „rumpeln“.

 

Solche Prozesse laufen immer in Phasen. In den letzten 20 Jahren wurde im Ergebnis das Energieversorgungssystem der USA aus europäischer Sicht eher belächelt. Es war für diese Nation insgesamt erstaunlich marode und anfällig. Aus diesem Status heraus wird es tatsächlich nun zu Versorgungsengpässen führen. Der Markt wird darauf zwei Antworten finden: Knappheiten, Preisexzesse und dadurch noch schnellere Innovationen. Vielleicht haben die USA in 10 bis 20 Jahren das mit Abstand modernste Energiesystem, es würde mich nicht wundern. Aber auf dem Weg dahin wird es Dinge geben, die man sich als Europäer nicht wünschen kann. Man beachte: Wenn Blackout-Gefahr, dann durch „den Markt“, denn die Verhinderung von solchen Knappheiten ist ganz und gar nicht Ziel von Märkten!

 

Liest man diesen Bericht, versteht man nun vor allem den tieferen Sinn von Merit-Order im europäischen System, denn dadurch wird sichergestellt, dass jede tatsächlich erforderliche Technologie angemessen bezahlt wird, während günstigere Technologien überproportional belohnt werden. Ebenso versteht man, warum es schwer ist, Merit-Order heraus zu nehmen, was daher auch nicht passieren wird. Ich würde mir einen anderen Weg wünschen, aber das habe ich hier oft genug thematisiert.

 

Mein Fazit dieses Vergleichs ist, dass es Unfug ist, zwischen so scheinbaren Polen wie „Staatswirtschaft“ und „Marktwirtschaft“ zu unterscheiden, weil angeblich das eine oder das andere überlegen sei. Es geht nicht um so viel oder so wenig Regulierung wie möglich, es geht um die richtige Regulierung. Die Europäer haben Merit-Order entwickelt, um vorschnelle Desinvestments zu verhindern und die gewünschten Investments zu fördern. Das war lange Zeit ein positiver Treiber, die Probleme lagen eher bei den Barrieren für Investments, nicht bei deren Bereitschaft. Europa übt sich in der Kunst, sogar recht klug genau die gewünschten Entwicklungen zu fördern, diese aber parallel durch einen Dschungel an Regulierung im Detail zu verhindern. Hier wird also sehr wohl klug reguliert und im Detail viel zu viel. Nun ist der Gaspreis explodiert und wird auch nicht näherungsweise auf alte Niveaus zurück finden. Das ist ein exogener Schock, wie Ökonomen es gerne nennen. Auf solche reagiert Europa erfahrungsgemäß zu träge. Es ist leider ein tödlicher Schlag für Merit-Order, aber die Europäer haben keine Gestaltungskraft, die Leiche schnell zu entsorgen, sie klammern sich an den sinnvollen Eigenschaften von Merit-Order und übersehen den Kollateralschaden.

 

In den USA werden letztlich ganz bewusst die typischen Fehlentwicklungen von Märkten akzeptiert. Niemand dort, auch kein begeisterter Neoliberaler, behauptet, dass Märkte zu fairen, innovativen und stets wünschenswerten Ergebnissen führen. So mancher Chor unserer Fans des freien Markts würde dort Erstaunen hervorrufen. Man ist vielmehr davon überzeugt, dass es besser ist, solche Entwicklungen zuzulassen und erst einzugreifen, wenn es nach welchen Kriterien auch immer notwendig ist. Daher sind die USA nämlich einerseits das Land ganz besonders „freier“ Märkte, um dann aber auch immer mal wieder das Land der ganz besonders einschneidenden Eingriffe in Märkte zu sein. Das haben wir dort in der Telekommunikation gesehen, jüngst in der Finanzkrise und im Energiesektor wird bereits seit Jahren über die marode Infrastruktur diskutiert. Nun hat Biden entschieden, in diesen Sektor viele Milliarden zu pumpen, in Form von direkten Infrastrukturmaßnahmen des Staats und durch Subventionen von Technologien bzw. Endprodukten. Das kann man übrigens „Staatswirtschaft“ nennen.

 

Beiden Regionen gemeinsam ist die politische Auseinandersetzung. Während beispielsweise Trump die mit Abstand höchsten staatlichen und geldpolitischen Mittel für seine Politik aufbrachte, wird die Nation nicht müde, zwischen einer „Staatswirtschaft“ der Linken und einer „Marktwirtschaft“ der Konservativen zu polarisieren. In den Chor stimmt natürlich auch das WSJ ein, keine Überraschung. Tatsächlich sind sich die führenden Parteien dort wirtschafts- und ordnungspolitisch viel ähnlicher, als sie gerne zugeben, aber das sieht man als Europäer vielleicht einfacher. Die Amerikaner sehen es bezüglich unserer politischen Lager übrigens genauso.

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