RRRrrrr Renners Rasende Randnotiz - Die innere Weltreise IV

Alon Renner (Potrait von Olivia Aloisi)
Alon Renner (Potrait von Olivia Aloisi)

DMZ – KOLUMNE ¦ Alon Renner ¦

 

Auf nach Australien! Den Ort, an dem mein Vater als Fünfjähriger verbannt wurde. Von den Schweizer Behörden. Nach dem Aufenthalt im Konzentrationslager Bergen Belsen. Im Schlepptau sein kleiner Bruder. Fürsorglich wie die Beamten dachten, durfte auch er auf die abenteuerliche Reise, der sie durchs Mittelmeer, den Suezkanal, an der Küste Afrikas vorbei und dann von La Réunion aus in einer geraden Linie, drei Wochen auf offener See, direkt nach Downunder bringen würde. Wir sprechen von 1945. Da hatte man nicht die gleichen Möglichkeiten wie heute. An eine Weltreise war nicht zu denken. Ausser man war Journalist, vermögend oder Soldat. Als Letzterer kam man unter Umständen ganz schön rum. Und selten zurück. Herzlich willkommen zu meiner neuen Kolumne. Wir befinden uns noch immer auf der Inneren Weltreise. Nur, dass sie dieses Mal etwas holpriger ausfällt, weniger für den Hochglanzkatalog der Reiseanbieter sozusagen...

 

Derweil meine Grossmutter in der Psychiatrischen Klinik Hohenegg in Meilen am malerischen Zürichsee - übrigens auch eine Reise wert - ihr KZ Trauma und den Verlust ihrer Kinder zu bewältigen versuchte. Geschlagene fünf Jahre lang. Das erste Wort des letzten Satzes kann man auch wörtlich nehmen. Denn zu der Zeit wurden die Patienten noch mit Elektroschock behandelt...

 

Dabei hatten sie es ja nur gut gemeint die Behörden. Man wollte die Kinder nicht ihrem Schicksal überlassen. Die internierte Mutter konnte sich nicht mehr um sie kümmern. Also wurde nach den nächsten Verwandten gesucht. Und fündig, fündig wurde man ausgerechnet in Australien.

 

Bei den lieben Verwandten. Bei den äusserst barmherzigen, fürsorglichen und herzensguten Verwandten, die zwei kleine Kinder den halben Globus durchqueren liessen, um sie nach der Ankunft gleich ins Kinderheim zu stecken. Dies wäre natürlich auch in Zürich möglich gewesen. Aber in Australien, da sind die Temperaturen besser, die Vegetation spannender und man wächst mit einer Sprache auf, die man später im Leben auch nutzen kann.

 

Als ich noch klein war, lebten die Koalas und die Kängurus im Hades, dem Pfefferland und dem Todesstern des Galaktischen Imperiums. Mordor, Jurassic Park und das Motel von Norman Bates waren nur so von Wallabys, Wombats und Quokkas bevölkert... Elterliche Massregelungen gipfelten folglich auch nicht in der Androhung einer Woche Hausarrest, Taschengeld- oder Dessertentzug, sondern damit, den Rest des Lebens in Australien verbringen zu müssen. Im Kinderheim von Melbourne.

 

Kein Wunder, war ich noch nie da. Australien ist für mich die Hölle, die Unterwelt, das Totenreich! Und genau da wollen wir nun gemeinsam hin.

 

Als sich Agatha Christie im Januar 1922 in Southampton für eine 10-monatige Weltreise einschiffte, hatte die 32-Jährige eben begonnen, sich als Schriftstellerin von Kriminalromanen einen Namen zu machen. Die Autorin begleitete ihren Mann, der die Reise aus beruflichen Gründen unternahm. Ganz eigentlich waren sie auf einer Promotionstour, um die bis dahin grösste Ausstellung der Welt zu bewerben, die British Empire-Exhibition von 1924/1925. Eine gigantische Messe, die dem Vereinigten Königreich und ihren 58 Kolonien gewidmet war. Verzeichnet wurden dann auch über 27 Millionen Besucher.

 

Zu den Stationen ihrer Reise gehörten Südafrika, Australien, Neuseeland, Hawaii und Kanada. Mit an Bord nahm Christie ihre Corona-Reiseschreibmaschine, mit der sie regelmässig ihrer Mutter schrieb. Ihre zahlreichen Briefe liegen als Buch vor, zusammen mit seltenen Fotografien. https://bit.ly/3qoSz7n Christies Briefe sind detailliert und spannend. Voller Lebensfreude berichtet sie über Exkursionen zu Diamantminen und Plantagen, über festliche Empfänge und die Ereignisse an Bord. Christie genoss die Weltreise sehr. Die sorgenvollen Jahre, die vor ihr lagen – der Tod der Mutter 1926 und die Trennung von ihrem Ehemann im gleichen Jahr – schienen noch weit weg.

 

Fast hundert Jahre später machen wir uns auf denselben Weg. Stechen zuvor aber in Richtung Hamburg in See. Und dies einzig und alleine um gewissen Leser*Innen eine Freude zu machen. Denn selbstverständlich ist dies ein Umweg. Und völlig unsinnig. Es sei denn... wir besuchen nicht nur den traditionellen, sonntäglichen Fischmarkt https://bit.ly/3jdOzoM, die Reeperbahn und die tollen Viertel mit ihren Fachwerkhäusern in barocker Front, sondern auch das Museum für Kunst und Gewerbe. https://www.mkg-hamburg.de/de/.

Denn da findet gerade eine sehr spannende Ausstellung statt. «Die Schule der Folgenlosigkeit: Übungen für ein anderes Leben.» https://bit.ly/3zVMALJ Die zentrale Frage um die sich die ganze Ausstellung dreht, lautet: Können wir leben, ohne Schäden zu hinterlassen?

 

Verknüpft wird dies mit einem eigens hierfür eingerichteten «Selbstlernraum».

Angesichts der bevorstehenden Klimakatastrophe, virologischer Ausnahmezustände, Rassenunruhen, aufkeimendem Antisemitismus und dem krassen Ungleichgewicht beim Eigentum von Vermögen, wäre es da nicht wünschenswert, dass wir alle einer Lebensführung nachgingen, die nichts und niemandem auch nur den geringsten Schaden zufügen würde? Der Künstler Friedrich von Borries nimmt den Faden dieser Fragestellung auf und kreiert ein ganz wunderbares Projekt.

 

In seinem «Selbstlernraum» erproben die Besucher und Besucherinnen ein folgenloses Leben, indem sie sich zum Beispiel die Hände in Unschuld waschen, sich im Nichtstun üben, Entscheidungen anderen abgeben oder die Besinnung verlieren. So gewinnt das Publikum eine neue Perspektive auf „Nachhaltigkeit“ und beginnt, die vermeintlich allgemeingültige Vorstellung von einem „richtigen Leben“ zu hinterfragen.

 

Und dann gibt es in Hamburg noch die Speicherstadt https://bit.ly/3qs31uF. Das grösste Lagerhausensemble der Welt. Als Zollfreilager zwischen 1883 und 1927 auf den Elbinseln gebaut, die dem Hafen unmittelbar vorgelagert sind, benötigte es über tausend zusätzliche ins Meer getriebene Eichenpfähle, um diesen «schwimmenden» Stadtteil zu realisieren. Seit 1991 steht sie unter Denkmalschutz und seit 2015 auf der Liste des UNESCO Welterbes.

 

Hier wurden die kostbaren Güter der Hamburger Kaufmänner gelagert. Wir sprechen von Kaffee, Tee, Kakao, Gewürzen, Teppichen, Tabak, usw.

Durch den zunehmenden Einsatz von Schiffscontainern und moderner Logistik war ein Konstrukt wie die Speicherstadt gegen Ende des letzten Jahrtausends aber für den Güterumschlag nicht mehr zeitgemäss. Heute beherbergt sie zahlreiche Agenturen, Museen, Redaktionen, Teppichhändler und Wohnräume.

 

Stellt Euch nun einmal vor, jede grössere Stadt der Welt würde einen historischen Stadtteil zur Speicherstadt erklären. Gespeichert würde in einem oder mehreren Museen das kollektive Gedächtnis. Alle Errungenschaften der Gesellschaft würden hier festgehalten und dokumentiert. Und damit meine ich vor allem soziale und politische Errungenschaften wie die Abschaffung der Leibeigenschaft, die Einführung von Demokratie und Bürgerrechte, die Verkündung der Menschenrechte, die 40-Stunden-Woche, die Bekämpfung des Faschismus, die Einführung des Frauenstimmrechts, das Gleichstellungsgesetz, die Abschaffung des Konkubinatsverbot, die Annahme der eingetragenen Partnerschaft, die Ehe für alle, etc. etc. Damit zukünftige Generationen sich jeweils vor Augen halten, dass die aktuellen Lebensumstände hart erkämpft werden mussten. Und wir nicht wieder zurückfallen. In die Zeiten der Barbarei.

Nächste Woche geht es weiter mit der Inneren Weltreise. Von Hamburg aus umschiffen wir die Europäische Atlantikküste und durchqueren das Mittelmeer. Was dies alles mit Agatha Christie zu tun hat, erfahrt Ihr spätestens dann.

 

Ganz liebe Grüsse – Euer Alon

 

Wer die Abenteuer der Inneren Weltreise bis anhin verpasst hat, kann sie hier nachlesen:

 

Die innere Weltreise I: Von Sankt Petersburg über Helsinki nach Stockholm, Berlin und Wien. https://bit.ly/2U0Qcvx

 

Die innere Weltreise II: Die Ultimative Playlist für Euer Kopfkino. Die 41 schönsten Songs für Eure fantastischsten Gedankenreisen. https://bit.ly/3gS75Bk

 

Die innere Weltreise III: Zu Fuss von Wien nach Zürich und von da nach Venedig, Paris und London. https://bit.ly/3xVHywH

 

Hier findet Ihr mich auf Social Media:

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Instagram: alon_renner


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