RRRrrrr Renners Rasende Randnotiz - Lebenslügen

Alon Renner (Potrait von Olivia Aloisi)
Alon Renner (Potrait von Olivia Aloisi)

DMZ – KOLUMNE ¦ Alon Renner ¦

 

«Wie geht es dir?» «Danke, es geht mir gut!» Herzlich willkommen zu meiner neuen Kolumne in der es um Lebenslügen geht. Und schon sind wir mittendrinn. Denn diese sehr unverfängliche Frage, die mehr Begrüssung als tatsächliche Erkundigung nach dem Wohlbefinden des Gegenübers ist, wird zumeist genauso unehrlich beantwortet. Denn wer will sich schon auf «Wie geht es Dir?» die Leidensgeschichten seiner Mitmenschen anhören? Oder schlimmer, wie gut es ihnen gerade geht? Und umgekehrt, muss man seine eigenen Tragödien ja nicht gleich jedem unter die Nase binden. Es sei denn, man ertrotzt sich das Recht und schreit es in die Welt hinaus. Auf die Gefahr hin, die anderen etwas vor den Kopf zu stossen. Oder bösartiger. Man weiss um das Desinteresse und trägt sie absichtlich möglichst lang und breit vor...

 

In den allermeisten Fällen basieren zwischenmenschliche Kommunikationsstrategien aber in der Absicht, sich in Wohlgefallen zu ergehen. Somit eckt man nicht an und will nicht anecken. Was zur Folge hat, dass man um dem anderen ein gutes Gefühl zu geben, ihn oder sie mit «Wie geht es Dir» begrüsst und auf diese Frage mit der gleichen Bestrebung «Danke es geht mir gut» antwortet.

So sind wir. Komplett verlogen. Und nun Corona. Da ist alles anders und viel offensichtlicher. Denn Corona deckt viele Lebenslügen auf. Ja, die Pandemie wirft uns nicht nur in die Isolation, sondern auch vor den Spiegel.

 

Zoom Calls in Blusen, Jacket, adrett und in Pyjamahosen. Es sieht ja keiner. Aber was sagt dies über uns aus? Ziehen wir uns nur anständig, schön und gestylt an um andere damit zu beeindrucken? Ist das innere ich eine Schlampe, eine Schlunze gar? Die nur vom Alltag und der täglichen Routine domestiziert wird?

 

Das Durchschnittsalter der Gesamtbevölkerung ist in den letzten Monaten um 10 Jahre gesunken. Nicht etwa, weil uns ein beachtlicher Teil der älteren Generation weggestorben wäre, sondern weil sich zur Zeit sehr viele auf Tinder vergnügen und da fast niemand sein wahres Alter verrät. Der Durchschnittsschweizer ist in den letzten Monaten darum auch viel höher, schlanker und intelligenter geworden. Wir übertreiben, wir untertreiben, wir flunkern, wir dichten und fälschen, dass sich die Balken biegen. Täglich. Mehrmals. Mehrmals täglich.

Sich verleugnen lassen geht auch nicht mehr. Es ist kein Mitarbeiter, kein Sekretär und kein Empfang mehr da, der steif und fest behauptet, man sei gerade in einem Gespräch, in einem Meeting oder sonst wie unabkömmlich. Was zur Folge hat, dass man das Handy einfach nicht mehr abnimmt. Dies ganz zum Verdruss von Call Centers, die Meinungsumfragen erheben.

Und all die Beziehungen die gerade in die Brüche gehen. Weil zu viel Nähe, zu viel Dichte, zu viel des Guten! Oder der Guten! Plötzlich erkennt man, mit wem man da die ganze Zeit zusammen war. Und ja, Tinder, Grindr, etc - die kleinen Seitensprünge. Die Tatsächlichen, diejenigen die «nur» online stattfinden und die Herbeigesehnten. All die Dinge, die dazu beitragen in Beziehungen Vertrauen zu zerstören. Die haben jetzt gerade Hochkonjunktur.

 

Plötzlich werden AGBs gelesen und man entdeckt lauter Dinge, die einem die Haare zu Berge treiben. Und, dass sich das Bundesamt für Bevölkerungsschutz liebevoll Babs nennt. Das ehemalige Amt für Zivilschutz. Babs, ausgerechnet.

Von den Liebhabern und Liebhaberinnen der leichten Unterhaltung möchte ich mich an dieser Stelle verabschieden. Herzlichen Dank, habt Ihr es bis hierhin geschafft. Nun wird es Ernst. Euch wünsche ich schon mal ein schönes Wochenende.

 

Aber es sind nicht nur die individuellen Lebenslügen die gerade ans Licht treten, sondern auch diejenigen der Gesellschaft. Zwei Beispiele möchte ich besonders hervorheben: Ein Spezialist nach dem anderen wird seit Februar vor die Kameras gezerrt, um seine Kenntnis über Sars Cov 2 zum Besten zu geben. Und da wir in Zusammenhang mit Covid 19 nur sehr wenig wissen, reflektiert dies nur immer den aktuellen, d.h. täglichen Stand der Forschung und vor allem auch nur die Meinung, dieses einzelnen Spezialisten.

 

Trotzdem werden sie vor die Medien geladen um ihre Weisheiten zu verbreiten. So kommen verschiedene Meinungen in Umlauf. Dies ist an und für sich nicht dramatisch, denn so entwickeln sich Thesen, Antithesen, Strategien, etc. 

Denn eine absolute Wahrheit gibt es nicht. Es gibt keinen Experten in keinem Fachgebiet der die ausschliessliche Wahrheit verkündet. Wahrheit ist immer nur eine gemeinsame Wahrheitsfindung, ein Ringen diverser Spezialisten um eine gemeinsame Schnittmenge, auf die sich die Mehrheit der Experten dann verständigt. 

Bei jedem anderen Thema ist eine Berichterstattung die auf der Befragung einer einzelnen oder weniger Fachkräfte beruht machbar. Dieses Vorgehen ist zwar einseitig und gibt ein unvollständiges Bild wieder. Aber machbar ist dies durchaus. Bei Corona hingegen ist dies gefährlich. Brandgefährlich.

 

Denn dank Social Media kursieren solche unterschiedlichen Experten Meinungen aus verschiedenen Wochen und Monaten im Netz. Und scheinen sich nicht nur zu widersprechen, sondern auch Inhalte widerzugeben, die veraltet, sprich nicht mehr wahr sind. Ein gefundenes Fressen für Verschwörungstheoretiker, die ihrerseits die unglaublichsten Dinge in Umlauf bringen. Ebenfalls via Social Media.

 

Plattformen die das Wort «Sozial» beinhalten, aber alles andere als sozial agieren. Denn aus kommerziellen Gründen werden um jeden User Blasen von Gleichgesinnten gebildet, die sich gegenseitig in ihren Meinungen bestärken. Kommt nun jemand daher, der eine andere Meinung vertritt, wird diese oftmals nicht toleriert und abgekanzelt. Dies kann soweit gehen, dass der Urheber sogar persönlich angegriffen wird. Dieses Verhalten wird aktiv gefördert, denn es generiert Emotionen und Aufmerksamkeit. Und viele Likes.

Eine Gesellschaft aber lebt von einem Zusammenhalt, von Individuen, die sich gegenseitig unterstützen und von der Toleranz auch andere Meinungen gelten zu lassen. Social Media fördert die Divergenz, fördert die Streitkultur, die Lust am böswilligen Verhalten und zersetzt damit das Fundament auf dem wir bauen.

So, nun gehe ich mich rasieren. Nach sieben Tagen ist es mal wieder an der Zeit. Und das T-shirt wechsle ich bei der Gelegenheit auch.

Mehr News demnächst. Hier in einer Woche. Passt gut auf Euch auf. Euer Alon 


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