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Straumanns Fokus am Wochenende - Faustischer Pakt

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦   

KOMMENTAR

 

In Deutschland ist es dieser Tage Mode geworden, dass Menschen in grosser Zahl sich vor den Privathäusern von Politikerinnen oder Politikern versammeln, die sie für die Corona-Massnahmen verantwortlich halten. Sie organisieren Fackelaufmärsche, heizen aggressiv die Stimmung an, führen Transparente mit staatsfeindlichen Parolen mit und bedrohen den Hausfrieden der dort lebenden Personen. Das Ziel ist Einschüchterung. Bürgerinnen und Bürger, die ein Leben in Zurückhaltung und Anstand gelebt haben, amalgamieren plötzlich mit Elementen aus der rechtsextremen Szene zu einem diffusen Mob, dessen Militanz sich jederzeit enthemmen kann.

 

Das ist mehr als bedrohlich – nicht nur für die (wortwörtlich) aufs Korn genommenen Gesundheitsminister oder MinisterpräsidentInnen des Bundes und ausgesuchter Länder, sondern für die Demokratie schlechthin. Deutschland, einer der konsequentesten Rechtsstaaten der Gegenwart, fühlt sich plötzlich an dunkle Zeiten erinnert, als Fackelaufmärsche die Begleitfolklore zur Radikalisierung der bürgerlichen Mitte darstellten. Nachahmer und Trittbrettfahrer verbreiten das Phänomen über andere Länder. Europas Politik steht unter Polizeischutz.

 

Was läuft hier ab? Gewiss, die nicht enden wollende Pandemie mit ihren immer neuen Mutationen zerrt an den Nerven. In vielen Familien macht sich Verzweiflung breit. Arbeitsplätze sind gefährdet oder schon verloren, der Schulbesuch der Kinder ist jeder Regelmässigkeit enthoben, materielle Nöte werden übermächtig. Die Politik mit ihrem Hin und Her in der föderalistischen Kleinstruktur entzieht den Boden jeder Gewissheit. Für viele Formen von Verunsicherung ist Verständnis angesagt – nicht jedoch dafür, wie diese Verunsicherung sich artikuliert. Wir leben in einer Zeit des sich am rechten Rand radikalisierenden politischen Diskurses.

 

Hierbei geht es nicht um Corona, sondern es geht um einen sich seit Jahren in der bürgerlichen Mitte entwickelnden, besorgniserregenden Prozess. Es geht um die Frage, wohin der europäische Konservatismus driftet. „Konservativ“ ist ein schönes Wort für eine schöne Sache: Bewahren wollen, was als bewährt gilt. Der politische Konservatismus hat aber von allem Anfang an dieser schönen Sache einen besonderen Drall gegeben. Entstanden ist er aus der Ablehnung der Französischen Revolution. Der Engländer Edmund Burke mit seiner Schrift „Reflections on the Revolution in France“ machte 1790 den Anfang und gab zu verstehen, was Sache ist: Bewährt habe sich die Auffassung, dass – radikalster Gegensatz zur Revolution – die Menschen nicht gleich geboren werden, sondern ungleich. Jede politische Verfassung müsse dieser Ungleichheit Rechnung tragen. Und weil sich die gesellschaftliche Ungleichheit als Privilegienordnung vererbe, sei diese zu schützen. Mit anderen Worten: Die Vorrechte eines Menschen, der in einen höheren Stand hinein geboren wird, sind sakrosankt. Vorrechte sind gottgegeben und sollen weitervererbt werden bis ins tausendste Glied.

 

Das Problem des politischen Konservatismus ist also nicht, dass er grundsätzlich bewahren will, was als bewährt gilt, sondern dass er immer schon a priori weiss, was sich bewährt hat: der Besitzstand. Dass Privilegien von den Privilegierten verteidigt werden, ist nichts weiter als menschlich. Seit etwa 20 Jahren ist hierbei aber eine Spaltung innerhalb des Konservatismus zu beobachten. Es gibt die gemässigten, liberal denkenden bürgerlichen Kreise, die dem Individuum seinen Entwicklungsspielraum zugestehen, ebenso das Gesellschaftsganze im Auge halten und jedem Extremismus entsagen. Auf der anderen Seite gibt es jene, die aus ihrem privilegierten Stand heraus eine radikale, sich hinter populistischen Parolen versteckende Raffgier entwickelt haben. Es handelt sich um kleine, sich „elitär“ verstehende Zirkel, die sich um politische Führergestalten versammeln, von Donald Trump, Boris Johnson bis hin zu Sebastian Kurz, um nur die prominentesten zu nennen. In Frankreich gesellt sich derzeit ein Rechtsextremist namens Eric Zemmour dazu.

 

Ihr politischer Stil hat den Konservatismus gespalten und sein radikalisierter Flügel wird zur Gefahr für die Demokratie. Grosse Volksparteien werden plötzlich zu Bewegungen umgestaltet, die dem Führerprinzip unterworfenen sind. Dort dient nicht mehr der Parteichef der Partei, sondern die Partei dem Chef. Exemplarisch ist, wie sich Trump in den USA die Republikaner unterworfen hat; sie folgen ihm in Hörigkeit – obwohl sie wissen, dass das zum Schaden der eigenen Sache ist. Der Ich-Kult der Führerfiguren schert sich keinen Deut um Authentizität und Wahrheit, sondern schleudert mit „alternativen Fakten“ um sich, dass sich die Balken biegen. Die Begünstigung der „Eliten“ wird durch neue Steuergesetze oder durch einen permanenten Abbau des Sozialstaates vorangetrieben. Unter Zuhilfenahme der gesamten Medienwelt (Social media bei Trump, gekaufte Boulevardpresse bei Kurz, eigenes Medienimperium beim Italiener Berlusconi) werden der Öffentlichkeit Feindbilder präsentiert und der politische Zorn auf sie abgelenkt. Wo immer sie können, unterlaufen sie die demokratischen Strukturen und insbesondere die Gewaltenteilung. Ihre Sprache ist Hetze oder sie ist voller subversiver Nadelstiche gegen die Justiz, die unabhängigen Journalisten, die Migranten.

 

Eine Stärke des liberal-konservativen Bürgertums war immer ihr bildungsmässiger Vorsprung auf viele andere gesellschaftliche Kreise. Es wäre hilfreich, würde man sich da und dort wieder darauf besinnen. Zum Beispiel wieder einmal den „Faust“ lesen!? Das würde vielleicht helfen zu erkennen, auf was für einen Pakt man sich gerade einlässt. 

 

 

 

 

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Seit einem Jahr finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der «Mittelländischen» Woche für Woche einen Kommentar von Dr. Reinhard Straumann. Mal betrifft es Corona, mal die amerikanische Aussen-, mal die schweizerische Innenpolitik, mal die Welt der Medien… Immer bemüht sich Straumann, zu den aktuellen Geschehnissen Hintergründe zu liefern, die in den kommerziellen Medien des Mainstream nicht genannt werden, oder mit Querverweisen in die Literatur und Philosophie neue Einblicke zu schaffen. Als ausgebildeter Historiker ist Dr. Reinhard Straumann dafür bestens kompetent, und als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen eingesetzt. Wir freuen uns jetzt, jeweils zum Wochenende Reinhard Straumann an dieser Stelle künftig unter dem Titel «Straumanns Fokus am Wochenende» in der DMZ Mittelländischen Zeitung einen festen Platz einzuräumen.  


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