· 

Was wäre, wenn wir Krieg hätten?

Foto von Oliver Schlotfeldt von Pexels
Foto von Oliver Schlotfeldt von Pexels

DMZ – GESELLSCHAFT / LEBEN ¦ Natalie Barth ¦         Foto von Oliver Schlotfeldt von Pexels

KOMMENTAR

 

Immer wieder in den letzten 2 Jahren seit Pandemiebeginn habe ich Aussagen vernommen, wie „Was macht das mit unseren Kindern, wenn sie nicht ganz normal mit anderen Kindern spielen dürfen?“ „Die psychischen Auswirkungen von Masken und Abstand“, „2 Jahre unseres Lebens haben wir einfach verloren!“ „Freiheit ist mein höchstes Gut, die lasse ich mir von niemandem nehmen!“

 

Ich anerkenne, dass das etwas mit uns gemacht hat, was wir an Einschränkungen erlebten. Für die einen war es weniger einschneidend, für andere mehr. Trotzdem waren meine automatischen, ersten Gedanken als Reaktion auf solche Aussagen in etwa so: „Was würde es wohl mit uns machen, wenn wir statt einer Pandemie einen Krieg hätten? Welche Auswirkungen hätte es auf unsere Kinder, wenn sie nicht nur eine Zeitlang nicht mit anderen Kindern spielen könnten, sondern bei täglich stattfindendem Bombenalarm innerhalb von Minuten im Keller oder einem Bunker verschwinden müssten? Was wäre, wenn wir nicht einfach „nur“ unsere Arbeit oder unser hart verdientes, erspartes Geld verloren hätten, sondern gar keinen Zugriff mehr auf Geld hätten, weil die Bankautomaten nicht mehr funktionierten? Was wäre, wenn wir nicht nur 2 Jahre unseres Lebens verloren hätten, sondern das Leben selbst oder das unserer liebsten Angehörigen?“

 

Der zweite Weltkrieg und unsere Grosseltern

Meine Grosseltern haben den zweiten Weltkrieg in Deutschland hautnah miterlebt. Mein Grossvater (mütterlicherseits) verlor als 17jähriger einen Arm im Krieg und lief Zeit seines Lebens mit einer Prothese herum. Die Kriegserlebnisse machten aus ihm einen psychisch gestörten Narzissten, unter dem auch andere jahrelang litten. Seine Frau, meine Grossmutter, erzählte uns immer wieder von den Sirenen und wie sie sich dann mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter im Keller verstecken musste.

 

Der andere Grossvater (väterlicherseits) lebte mit Granatsplittern aus dem Krieg in seinen beiden Waden. Diese konnte man anscheinend nicht entfernen und so waren sie für ihn bis zu seinem Tod ein „Andenken“ an diese Erlebnisse. Dessen Frau, meine Lieblingsoma, flüchtete am Ende des zweiten Weltkriegs als junge Frau und allein aus Rumänien nach Deutschland.

 

Diese Bilder tauchten in den letzten 2 Jahren sehr oft in meinen Gedanken auf. Immer wenn ich Leute sich über diverse Massnahmen in der Pandemie und die Folgen für unser Leben beschweren hörte, kam die Frage in mir hoch: „Was wäre, wenn das Stück Stoff im Gesicht das geringste aller Probleme wäre? Was wäre, wenn wir einen Krieg hätten? Was genau würde DAS wohl mit der Psyche eines jeden von uns machen?“

 

Der Blick über den Tellerrand

Und jetzt gibt es Krieg. Nicht einmal 2000 km entfernt von uns. Ich sehe Menschen, die Angst haben, unendlich lange Autostaus mit Flüchtenden. Eltern, die ihre kleinen Kinder und andere, die mit ihren Haustieren im Arm die Grenzen überqueren. Diese Bilder bewegen mich im Moment sehr stark.

Aber nicht nur diese und nicht nur jetzt. Wir haben, wenn wir hinschauen möchten, viele Brandherde auf dieser Welt: Afghanistan und das grausame Taliban-Regime. Jemen und sein seit Jahren herrschender blutiger Bürgerkrieg. Syrien, wo immer noch eine katastrophale humanitäre Lage herrscht. Diverse Bürgerkriege in afrikanischen Ländern, die seit Jahren andauern. „Allein im Südsudan haben seit 2013 laut UNICEF 17.000 Kindersoldaten gekämpft."

 

Was das wohl mit diesen Kinderseelen macht?

Ich mache mir sehr viele Gedanken über das, was in den letzten 2 Jahren im Rahmen der Pandemie in unserer Gesellschaft passierte. Aber viel mehr noch, was Menschen jetzt gerade in der Ukraine erleben und all die anderen, die seit Jahren nichts anderes als Krieg und Angst um ihr Leben und um ihre Kinder und Angehörigen kennen. Ja, einerseits beunruhigt mich das alles auf eine gewisse Weise, weil mir ziemlich bewusst ist, dass die Pandemie, so einschneidend sie für manche gewesen war oder noch ist, vielleicht auch eines Tages UNSER lächerlichstes Problem sein könnte.

 

Das grösste Problem 

Aber es macht noch etwas mit mir: Es macht mich unendlich traurig, zu sehen, wie unsere Prioritäten im Leben hier, in relativ stabilen Ländern und Regionen, liegen. Wie dekadent, blind und egoistisch wir oft durchs Leben ziehen, ohne den Blick über den Tellerrand zu wagen. Während andere Menschen auf diesem Planeten um ihr Leben fürchten, kümmern wir uns in unseren Breitengraden in erster Linie darum, dass diese Umstände - seien es die Einschränkungen während der Pandemie, seien es kriegerische Auseinandersetzungen in anderen Ländern, seien es die Schicksale von Millionen Menschen, die auf der Flucht sind und kein Zuhause mehr haben, sei es der Klimawandel oder whatever - unsere bisherige Lebensweise in keinster Weise beeinträchtigen wird.

 

Dass wir unsere Leben doch bitteschön wie vor Corona weiterführen können. Und das bitte möglichst bald. Dass wir unser Leben in absoluter Freiheit und Selbstverwirklichung führen können und zur Beruhigung unseres Gewissen vielleicht einfach mal eine kleinere oder grössere Summe spenden. Aber ansonsten uns mit den Problemen dieser Welt nicht weiter befassen, weil sie unser „Mindset“ für den Erfolg, die Treppe nach oben oder den Seelenfrieden hinderlich sein könnten.

 

Ein Autoren-Kollege aus der DMZ verwendete ein Wort, das meiner Meinung nach sehr treffend zusammenfasst, was wohl unser grösstes Problem in unserer westlichen Gesellschaft und allem voran hier in der Schweiz, in Deutschland oder in Österreich zu sein scheint: Der Wohlstandsbewahrungswahn.

 

Was wäre, wenn wir nicht mehr so viel Zeit hätten, wie wir glauben? Was wäre, wenn die Beibehaltung und Verteidigung unseres Wohlstandes, unserer Freiheit, unseres Erfolgs, unserer Selbstverwirklichung einfach nur lächerlich sind im Vergleich zum dem, was kommen könnte? Was wenn wir heute unseren Liebsten zum letzten Mal ins Gesicht sehen würden, ohne es zu wissen? Welche Werte sind wohl noch wichtig, wenn alles um uns herum zusammenbricht, wenn kein Stein in unserem Leben mehr auf dem anderen bleibt? Für was würden wir dann wirklich kämpfen?

 

Genau vor dieser Situation stehen jetzt in diesem Moment sehr sehr viele Menschen auf unserem Planeten. Ist uns das in unserer kleinen heilen Welt bewusst?

 

Was wäre, wenn wir Krieg hätten und wir direkt, in unserem Land, davon betroffen wären? Was würden wir uns dann wünschen, hätten wir gemacht, gesagt, gezeigt, als es noch möglich war?

 

Natalie Barth schreibt für den Blog www.nataliesdiary.com und betreibt den Aufklärungskanal auf YouTube «Natalie Barth – Die Sekte und das Leben danach» 


Meistgelesener Artikel

Jeden Montag wird jeweils aktuell der meistgelesene Artikel unserer Leserinnen und Leser der letzten Woche bekanntgegeben.


Unterstützung

Damit wir unabhängig bleiben, Partei für Vergessene ergreifen und für soziale Gerechtigkeit kämpfen können, brauchen wir Sie.


Mein Mittelland

Menschen zeigen ihr ganz persönliches Mittelland. Wer gerne sein Mittelland zeigen möchte, kann dies hier tun
->
Mein Mittelland



Ausflugstipps

In unregelmässigen Abständen präsentieren die Macherinnen und Macher der Mittelländischen ihre ganz persönlichen Auflugsstipps. 


Rezepte

Wir präsentieren wichtige Tipps und tolle Rezepte. Lassen Sie sich von unseren leckeren Rezepten zum Nachkochen inspirieren.


Persönlich - Interviews

"Persönlich - die anderen Fragen" so heisst unsere Rubrik mit den spannendsten Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern.


Kommentar schreiben

Kommentare: 0