RRRrrrr Renners Rasende Randnotiz - Die unglaubliche Geschichte des Wolodimir Selenskij

Alon Renner (Potrait von Olivia Aloisi)
Alon Renner (Potrait von Olivia Aloisi)

DMZ – KOLUMNE ¦ Alon Renner ¦                         

 

Über eine Fernsehrolle an die Spitze des Ukrainischen Staates! Wolodimir Selenskijs Biographie nimmt sich aus wie von Baron Münchhausen erzählt oder wie wir es nur von Politiker-Karrieren aus den Vereinigten Staaten kennen! Kein Wunder, hat ihn Putin dermassen unterschätzt.

 

Herzlich willkommen zu meiner neuen Kolumne. Jahrelang hatte er ihn gespielt, den Staatspräsidenten der Ukraine: in der beliebtesten Fernsehserie des Landes. «Der Diener des Volkes» hiess die Comedy Serie, und ihr zugrunde lag die unerwartete Karriere eines Lehrers, der plötzlich Präsident wurde, weil seine Schüler ein Video verbreiteten, in dem er sich über die Korruption im Land echauffierte. Dies war die Geschichte eines kleinen Staatsangestellten, der täglich zur Arbeit radelte, Ideale hatte und sich nicht kaufen liess. In einem Land wie die Ukraine: ein Traum von einem Staatsoberhaupt.

 

Zunächst hielt man es für einen Scherz, als Selenskij Silvester 2018 am Bildschirm auftauchte und seine Kandidatur verkündete. Doch es war ihm tatsächlich ernst damit. «Ich verspreche Ihnen liebe Ukrainer und UkrainerInnen, dass ich als Präsident kandidiere und erkläre hiermit offiziell: ich trete an!» Ab dem Zeitpunkt verging kein Tag, an dem er sich nicht bei Social Media zeigte - zumeist bescheiden in Jeans und Sweatshirt - und seine Kandidatur untermauerte.

 

Inhaltlich gab es keine Versprechen, keine Statements, keine politischen Ansagen. Der Wahlkampf wurde nur aufgrund seiner Bekanntheit und seiner Rolle in der Fernsehfolge geführt. Selenskijs Partei hiess wie die Serie: «Diener des Volkes» und bestand aus seiner Comedy-Truppe. Neue Mitglieder nahmen sie nicht auf. Dafür aber einen ganzen Stab voller junger Leute, die damit beschäftigt waren, Content für Social Media aufzubereiten.

 

Im weissen Unterhemd, zu Hause bei seinen Eltern sitzend, erfährt der völlig überraschte Lehrer zu Beginn der ersten Folgen der Sitcom, dass er Präsident geworden ist. Als nächstes soll er sich eine teure Uhr aussuchen die 10 000e von Franken kostet. Er hingegen will das nicht. Verschwendung von Steuergeldern sei dies. Und damit prangerte er natürlich die Korruption und Geltungssucht der ukrainischen Politikerklasse an, was in der Bevölkerung unglaublich gut ankam. Bis kurz vor der Wahl war Selenskij auf Tournee. Er füllte Hallen und machte einen Wahlkampf, der darin bestand, sich über die bestehenden Volksvertreter*innen lustig zu machen, mit ihren Luxuskarosserien und gepanzerten Autoscheiben. Mit Journalisten redete er dabei eher wenig. Angesprochen wie er sich auf die Präsidentschaft vorbereite, meinte er in die Kamera des ZDF: «Auf so was kann man sich doch gar nicht vorbereiten. Du musst adäquat sein, also anständig. Das Ziel sollte nicht der Sieg sein, sondern Gutes zu tun.»

 

Ein politisches Programm gab es im ganzen Wahlkampf nicht. Noch unmittelbar vor der Wahl meinte Selenskij, dass er daran arbeiten würde. Präsentiert hatte er aber ein solches bis zu seiner Wahl nicht. Bei den Fans war die Grenze zwischen Kunstfigur und Kandidat aufgehoben. Sie konnten nicht unterscheiden zwischen dem Schauspieler, der eine Rolle spielt und der Privatperson, die sich für eine Präsidentschaft bewirbt. Alle hofften, dass er als Präsident gleich sein würde wie in seiner Rolle. Mit der gleichen Nähe und dem gleichen Verhältnis zum Volk.

 

Wen das an die Kandidatur von Donald Trump im weit entfernten Amerika erinnert, mag wohl nicht ganz falsch liegen. Vielleicht könnte man auch an Ronald Reagan denken, der, wie Arnold Schwarzenegger vor seiner Zeit als Gouverneur von Kalifornien, eine erfolgreiche Karriere als Schauspieler innehatte. Auch Trump kannte das breite Publikum vor allem durch die TV Serie «The Apprentice». Die Serie lief von 2004 bis 2017 auf NBC und erreichte absolute Traumquoten: im Schnitt schauten sich die Folgen über 20 Millionen Leute an. Natürlich war Trumps Motivation eine ganz andere. Im Falle eines Gewinnes konnte er davon ausgehen, dass er Immunität für all die ihm zu Last gelegten Betrügereien, Steuerhinterziehungen und Vergewaltigungsvorwürfe erhielt. Sollte er hingegen verlieren, hätte er auf alle Fälle seinen Marktwert erhöht. Der Wahlkampf wurde – man erinnert sich – auf der Klaviatur des Rechtspopulismus ausgetragen. Eine Mauer zur mexikanischen Grenze wollte er bauen und den Sumpf an Korruption in Washington austrocknen. Seine politischen Gegner verhöhnte er nicht nur, er erniedrigte sie vor allen Augen. Selenskij hingegen war aus ganz anderem Holz geschnitzt. Die Frage war nur: aus welchem? Rechtspopulistisch fiel er nicht auf, populistisch hingegen sehr.

 

Die Welt staunte nicht schlecht, als er am 21.04.2019 die Wahl mit 73% der Stimmen dann auch tatsächlich gewann! 73%!!!! Man stelle sich das mal vor! Am 20. Mai trat er als sechster Präsident der Ukraine die Staatsgeschäfte an. Davor hatte er, genauso wie Trump, noch nie ein politisches Amt bekleidet.

Geboren wurde er 1978 in einer jüdischen Familie im Südosten der Ukraine, damals noch auf dem Gebiet der Sowjetunion. Russisch ist seine Muttersprache. Erst danach lernte er Ukrainisch. Nach einem Jurastudium in Kiew gründete er mit «Quartal 95» seine eigene Comedy Truppe und setzte von Anfang an auf die politische Satire. Bei der Wahl half ihm gewiss, dass er als Aussenseiter kandidierte.

 

Schon bald nach der Amtseinführung musste sich Wolodimir Selenskij jedoch den Vorwürfen der Korruption stellen. Und dies gleich mehrfach. Denn sein Wahlkampf wurde massgeblich durch den Oligarchen Ihor Kolomojskyj finanziert. Dieser ist Mitgründer der grössten Bank des Landes und hält diverse Geschäftsbeteiligungen in der Stahl-, Öl-, Chemie-, Energie- und Nahrungsmittelindustrie inne. Ausserdem ist er mehrheitlich an der Fernsehgruppe 1+1 beteiligt, die Selenskijs Kultserie «Diener des Volkes» ausstrahlte.

 

In seiner Antrittsrede nannte Selenskij die Beendigung des Krieges im Donbas und die Rückgabe der Krim an die Ukraine als seine vorrangigen Aufgaben.

 

Und das Land von Korruption zu befreien. Und tatsächlich versuchte er als einer der ersten Präsidenten seines Landes, die Macht der Oligarchen zu beschränken. So führte er ein Lobbygesetz ein und gründete einen nationalen Sicherheitsrat, der Sanktionen gegen Oligarchen beschliessen kann.

Mit der Korruptionsbekämpfung kam er aber nicht sehr schnell voran. International war er isoliert, da die NATO Staaten auf seine Beistandsgesuche reserviert reagierten, um Russland nicht zu provozieren.

Auch sein grösstes politisches Versprechen, Frieden in der Ostukraine zu bringen, konnte Selenskij nicht halten. Er erreichte zwar einen ersehnten Gefangenenaustausch mit den prorussischen Separatisten und eine längere Feuerpause, weitgehende Fortschritte blieben aber aus.

 

Schliesslich erschien sein Name in den Pandora Papers. Ausgerechnet ihm, der gegen die Korruption antreten wollte, konnte Steuerflucht nachgewiesen werden, wodurch er weiten Rückhalt in der Bevölkerung einbüsste. Eigentlich wäre die Geschichte hier fertig. Das Ukrainische Volk hat sich einmal mehr blenden lassen...

 

Und dann kam eine völlig unerwartete Wendung!

Seit 15 Tagen ist Selenskij nun das Gesicht des ukrainischen Widerstandes schlechthin! Das Angebot von Joe Biden, sich und seine Familie in Amerika in Sicherheit zu bringen, hat er zu Beginn des Krieges mit den Worten «Ich benötige keine Mitfahrgelegenheit, ich benötige Munition!» dankend abgelehnt. Wohlwissend, dass es Putin gerade auf seinen Kopf abgesehen hat. Die von Moskau geschickten tschetschenischen und russischen Killerkommandos haben in den letzten zwei Wochen auch mehrfach versucht, ihn zu liquidieren.

Es vergeht kein Tag, an dem er nicht im dunkelgrünen Armee T-Shirt vor den Kameras auftritt und seine Landsleute zum Widerstand einschwört, die EU um Hilfe angeht und die aktuellen Kriegsereignisse kommentiert. Auch wendet er sich immer wieder in fliessendem Russisch an die Truppen und an die Bevölkerung des feindlichen Nachbarstaates. Sein Einsatz könnte ihn das Leben kosten und dasjenige seiner Familie! Und gerade deshalb ist er nun zur Gallionsfigur des Freiheitskampfes der Ukrainer aufgestiegen. In einer Mischung aus Che Guevara und Winston Churchill spielt er die Rolle seines Lebens! Und wächst in einem solchen Masse über sich hinaus, dass er nicht nur Wladimir Putin völlig in den Schatten stellt, sondern auch zu einer Ikone, einem Antikriegs-Popstar mutiert.

 

Man muss sich nur einmal seine Rede vor dem britischen Parlament von dieser Woche anhören um zu verstehen, wie sehr er die Menschen bewegt, wie sehr er sie inspiriert und wie sehr sein Beispiel Schule macht.

 

Völlig überrumpelt von der Invasion der feindlichen Truppen hat Wolodimir Selenskij wieder dahin gefunden, wo er gestartet ist: zum einfachen, kleinen Mann, der seine Stimme erhebt, um die Ungerechtigkeit der Welt anzuprangern. 

 

Ganz liebe Grüsse

Euer Alon

 

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