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Straumanns Fokus am Wochenende - Nach mir die Sintflut

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦   

KOMMENTAR

 

Vor exakt sieben Jahre, am 24. März 2015, zerschellte ein Linienflugzeug der Germanwings im Gebirge des französischen Départements des Alpes-de-hautes-Provence. Der Co-Pilot, ein in psychotherapeutischer Behandlung stehender 28jähriger Deutscher, hatte beschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen. Er verbarrikadierte sich im Cockpit und steuerte seine Maschine vom Typ Airbus 320 geradewegs auf eine Felswand zu. Er tat es bei klarem Bewusstsein, dass er 150 Unbeteiligte mit in den Tod reissen würde.

 

Wie kam er zu so viel Verblendung? Waren ihm die Menschen einfach egal, etwa die Gymnasialklasse, deren Schülerinnen und Schüler er beobachtet hatte, wie sie sich beim Boarding in Ferienstimmung ihres Lebens erfreuten? Oder hielt er die Gesellschaft für verantwortlich für seine Krankheit, seinen Weltschmerz, und beschloss, stellvertretend für das Ganze wenigstens 150 Individuen mit dem Tod zu bestrafen? Und wie konnte sein Umfeld, in welchem man die psychischen Auffälligkeiten erkannt hatte, es zulassen, dass diesem jungen Mann die Macht über so viele Menschenleben gegeben wurde?

 

Viele Fragen, die wir stellen, werden wir nie beantworten können, weil die Antworten jenseits dessen liegen, was wir uns vorstellen können. Aber dieses Unvermögen hindert das Undenkbare nicht, Gestalt anzunehmen. Was vor sieben Jahren 150 Männer, Frauen und Kinder waren, ist heute eine Nation. Vielleicht wird es bald ein ganzer Erdteil sein, vielleicht die Menschheit. Wir wissen nicht, welcher Teufel Wladimir Putin reitet.

 

Was wir wissen, ist, dass er aus der Einstellung heraus handelt, Russland sei Gewalt angetan worden. Tatsächlich war die Ostexpansion der NATO politisch zweischneidig, und es war moralisch fragwürdig, wie der Westen entgegen aller Versprechungen die Schwäche Russlands in den 1990er-Jahren ausgenützt hat. Noch übler war, als 2014 mit amerikanischem Geld und unter amerikanischer Regie in der Ukraine die Regierung Janukowitsch weggeputscht und durch eine pro-amerikanische Regierung (Poroschenko) ersetzt wurde, die sofort den NATO-Beitritt forderte. Damit drohte Russland die Stationierung von Mittelstreckenraketen im eigenen Vorgarten und der Verlust des Zugangs zum Schwarzen Meer. Putin reagierte sofort und sicherte sich die Krim und zwei Provinzen im Donbass.

 

Das war völkerrechtswidrig, kein Zweifel, aber die Einmischung der USA in die inneren Angelegenheiten der Ukraine 2014 waren es ebenso, ganz zu schweigen vom Irak-Krieg, den die US-Regierung um Bush, Cheney und Konsorten 2003 vom Zaun gebrochen hatte. Putin hat genau registriert, was den USA daraufhin widerfahren ist: nämlich gar nichts. Er sah keinen Grund, für Russland nicht das gleiche Unrecht in Anspruch zu nehmen.

 

Aber Putin hat sich verrechnet. Entweder versagten seine Geheimdienste oder sein Umfeld getraute sich nicht, dem Zarengleichen zu widersprechen – es spielt keine Rolle. Putins Krieg ist ein Fiasko. Seine erste Vision, im Donbass im Triumphzug einzuziehen wie weiland Hitler in Wien, war der erste Irrtum. Der zweite war die Annahme, seine Panzer würden in Kiew begrüsst werden wie 1968 die sowjetischen in Prag, nämlich mit Abscheu, aber ohne militärischen Widerstand. Drittens wurde sein Plan einer Spaltung des Westens von einer beispiellosen Welle von Solidarität unterspült. Die NATO hat ihre Reihen geschlossen und ist stärker als je. Putins Strategie ist, wortwörtlich, bombastisch gescheitert.

 

Das furchtbare Dilemma, in dem sich die Welt zurzeit befindet, besteht jedoch darin, dass wir uns darüber nicht freuen können.

Putins Pleite droht alles noch schlimmer zu machen. Wie geht einer, der sich vorgenommen hat, die Welt zu bestrafen, mit der Tatsache um, dass die zu Bestrafenden schon wieder die Stärkeren sind? Was macht die Demütigung mit ihm, dass seine hochgerüstete Armee gegen eine zehnfach unterlegene nicht voran kommt? Ist es ihm egal, dass die zehntausend Menschenleben, die der Krieg bis jetzt gefordert hat, für die Katz waren? Schlimmer noch: dass seine persönliche Schuld dem Land angelastet wird, das er zu alter Grösse führen wollte, und dass dieses Land dafür bestraft wird? Wie verhält sich einer, dessen psychische Struktur keine Niederlage erträgt, aber von allen Seiten in die Ecke getrieben wird, wenn er gleichzeitig noch den ultimativen Joker der Nuklearwaffen im Ärmel hat?

 

Was kann ihn hindern, sie einzusetzen?

Noch einmal: Viele Fragen können wir nicht beantworten, weil die Antworten jenseits unseres Vorstellungsvermögens liegen. Aber wir müssen den Vergleich aushalten, dass die Welt ein Airbus geworden ist, in welchem einer der Co-Piloten sich im Cockpit eingebunkert und den Steuerknüppel übernommen hat. Niemand weiss, ob er imstande sein wird, seine Gedanken so zu ordnen, dass er das Äusserste unterlässt.

 

Die Gewissheit, dass es keine Politik geben darf jenseits von jeglicher Moral, ist ein schwacher Trost, aber hoffentlich wirksam in der Zukunft (nehmen wir einmal an, es gebe eine). «Nach uns die Sintflut» wird niemals eine Option sein, Putin hin oder her. Im Unterschied zu jenem Piloten, der sich zusammen mit 150 Unbeteiligten in den Tod stürzte, hat Putin Kinder. Wer weiss, vielleicht hilft das.

 

 

 

 

 

 

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Seit einem Jahr finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der «Mittelländischen» Woche für Woche einen Kommentar von Dr. Reinhard Straumann. Mal betrifft es Corona, mal die amerikanische Aussen-, mal die schweizerische Innenpolitik, mal die Welt der Medien… Immer bemüht sich Straumann, zu den aktuellen Geschehnissen Hintergründe zu liefern, die in den kommerziellen Medien des Mainstream nicht genannt werden, oder mit Querverweisen in die Literatur und Philosophie neue Einblicke zu schaffen. Als ausgebildeter Historiker ist Dr. Reinhard Straumann dafür bestens kompetent, und als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen eingesetzt. Wir freuen uns jetzt, jeweils zum Wochenende Reinhard Straumann an dieser Stelle künftig unter dem Titel «Straumanns Fokus am Wochenende» in der DMZ Mittelländischen Zeitung einen festen Platz einzuräumen.  


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