Straumanns Fokus am Wochenende - Die Wahl des Abgrunds

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦   

KOMMENTAR

 

In den westlichen Leitmeiden, und insbesondere in den führenden Zeitungen der Bundesrepublik, ist derzeit die Textsorte der Schelte tonangebend. Die FAZ und die Süddeutsche (und unvermeidlich auch die öffentlich-rechtlichen elektronischen Medien ARD und ZDF) überbieten sich im Kanzlerbashing, leicht zurückhaltend assistiert von der ausländischen liberal-konservativen Presse. Nebst Olaf Scholz kriegt insbesondere die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, ihr Fett ab. Tenor: Die Russland-Politik der Bundesregierung und der Landesregierung Meck-Pomm war naiv. Stein des Anstosses ist die Erdgas-Pipeline Nord Stream 2. Wie konnten sie nur wie Rotkäppchen dem Wolf Putin in die Falle gehen?!

 

Sehr einfach: Sie konnten, weil sie auf die Rationalität des Menschen generell vertrauten und – bei allen offenkundigen Differenzen – die Zerstörungswut eines in die Architektur der Koexistenz eingebundenen Potentaten nicht für möglich hielten. Weil sie die gegenseitigen Abhängigkeiten als konstitutiv für eine Politik akzeptierten, die ein Zusammenleben ohne Absturz in die Barbarei eigentlich hätte ermöglichen müssen. Weil sie der Parole Wandel durch Handel vertrauten, die wir zwar heute aus den Augen verloren haben, die wir aber auch in Zukunft wieder anstreben werden müssen, wenn der furchtbare Krieg um die Ukraine einmal beendet und die Schreckensherrschaft Putins ausgestanden sein werden.

 

Das hindert die Welterklärer in den Chefredaktionen nicht, sich im Nachhinein als Neunmalkluge zu gerieren und als Weltenrichter ihren Tadel über eine Politik auszugiessen, die – man kann es drehen und wenden, wie man will – im Grunde alternativlos ist. Jede andere Politik wird zum Untergang dieses Planeten und seiner Bewohner führen, ob auf dem schnellen Weg durch Massenvernichtungswaffen oder auf dem schleichenden Pfad durch die Zerstörung von Ressourcen und Umwelt sowie durch Klimaerwärmung. Die Nationalisten und Waffenfreunde können sich noch so sehr die Hände reiben ob ihrer gegenwärtigen Hochkonjunktur – sollte das unsere Zukunft sein, dann haben wir gar keine.

 

Nicht die Russland-Politik mancher westlichen Staaten war falsch, sondern ihre Putin-Politik. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Putin ist nicht Russland. Er ist ein in nationalistischer Verblendung irregeleiteter, menschenverachtender Gewaltherrscher, der sich auf einen kleinen Kreis von Gefolgsleuten stützt. Deren Loyalität hat er sich damit erkauft, dass er sie mit Pfründen bediente, deren Erträge dem russischen Volk vorenthalten werden. Jetzt fliessen sie in die Taschen von Oligarchen, die sich beim Turf in St. Moritz gegenseitig die Cüpli und den Kaviar kredenzen. Das hat so viel mit Russland zu tun wie Versailles mit Frankreich vor der Französischen Revolution.

 

Die grundsätzliche Frage, die sich stellt, ist deshalb jene nach dem möglichen Schaden, den ein Einzelner über seine Nation bringen kann. Es ist die Frage nach dem Individuum und seiner Wirkung auf die Geschichte. Der Marxismus, unübertroffen in der ökonomischen Analyse der kapitalistischen Gesellschaft und in der Einsicht, wie die ökonomischen Bedingungen sich geschichtsmächtig auswirken, hat vieles kommen sehen, aber einiges hat er unterschätzt und anderes konnte er nicht ahnen. Beispielsweise hat er vor lauter Strukturen dem Individuum zu wenig Bedeutung beigemessen. Und geradezu undenkbar war, was die zerstörerische Kraft des Nationalismus mit dem Individuum anzurichten vermag angesichts der medialen Gegebenheiten im 20. und 21. Jahrhundert.

 

Die Kraft des Individuums kann Unglaubliches erreichen, im Positiven wie im Negativen. Von Franz von Assisi bis hin zu Mahatma Gandhi, von Martin Luther bis zu Martin Luther King, von Bach zu Mozart und Beethoven, von Albert Einstein zu Albert Schweitzer, von Rosa Luxemburg bis zu Michael Gorbatschow – wer hätte deren individuelle Leistungen vorhersagen können?

 

Und ebenso verhält es sich in den Abgründen der Geschichte. Nicht jeder hat, wie Hitler, sein Programm der Welt zur gefälligen Kenntnisnahme zehn Jahre im Voraus schriftlich vorgelegt. Und selbst jene, die es gelesen haben, haben es nicht geglaubt. Wer konnte noch im Jahr 1799, als in Frankreich das Direktorium durch einen Militärputsch gestürzt wurde, erahnen, welche Geschichte über Frankreich und Europa durch den neuen Konsul Napoleon hereinbrechen würde? Wer hat Stalin in seinen Anfängen richtig eingeschätzt? Wer hat kommen sehen, wie viele Millionen Menschenleben die Politik Mao-tse-Tungs fordern würde, die er unter dem poetischen Namen «Lasst 100 Blumen blühen» in China in die Wege leitete?

 

Es ist nicht aus der Welt zu reden, dass die Politik des Vertrauens und der Zusammenarbeit mit Putin falsch war. Aber es ist absolut unzutreffend, dass die Politik der Zusammenarbeit und des Handels mit Russland falsch ist, dass wir uns jetzt alle voneinander abschotten und zurück ins Zeitalter der Hochrüstung begeben müssen. Wer uns solches glaubhaft machen will, bedient die Interessen der Rüstungsindustrie. Deren Pläne sind leicht durchschaubar: Sie will die Geschichte wiederholen, indem Russland erneut durch den Rüstungswahnsinn in die Knie gezwungen werden soll wie damals die Sowjetunion. An nichts hat die Rüstungsindustrie mehr Bedarf als an Feindbildern, also wird jetzt der Moment genutzt, um solche zu schüren und zu bewirtschaften. Aber die Sache hat einen Haken: Was eine solche Politik an Ressourcen verschlingen und Umweltzerstörung erzeugt, wird unseren Planeten an den Abgrund führen. Eine Politik, der längerfristig nichts anderes einfällt, als bedingungslos auf Rüstung zu setzen, bietet uns nichts anderes an als die Wahl des Abgrunds, in den wir uns stürzen sollen.

 

 

 

 

 

 

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Seit einem Jahr finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der «Mittelländischen» Woche für Woche einen Kommentar von Dr. Reinhard Straumann. Mal betrifft es Corona, mal die amerikanische Aussen-, mal die schweizerische Innenpolitik, mal die Welt der Medien… Immer bemüht sich Straumann, zu den aktuellen Geschehnissen Hintergründe zu liefern, die in den kommerziellen Medien des Mainstream nicht genannt werden, oder mit Querverweisen in die Literatur und Philosophie neue Einblicke zu schaffen. Als ausgebildeter Historiker ist Dr. Reinhard Straumann dafür bestens kompetent, und als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen eingesetzt. Wir freuen uns jetzt, jeweils zum Wochenende Reinhard Straumann an dieser Stelle künftig unter dem Titel «Straumanns Fokus am Wochenende» in der DMZ Mittelländischen Zeitung einen festen Platz einzuräumen.  


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