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Sich als Frau und Mann fühlen – Umgang mit Sexualität in Pflegesituationen

© iStock / Pornpak Khunatorn
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DMZ – MEDIZIN ¦ Markus Golla ¦                                         © iStock / Pornpak Khunatorn  

 

 

„Das hat in einer Dienstübergabe nichts verloren!“ unterbrach sie die Stationsleitung, als die Pflegeperson bei der Dienstübergabe von der Nachtschicht an die Frühschicht berichtete, dass Herr Z. in der Nacht sehr unruhig war und masturbierte, was den Zimmernachbarn sehr störte.

 

Zum Glück hat sich in den letzten 15 Jahren in Bezug auf das Thema Sexualität in der Gesundheits- und Krankenpflege sehr viel getan. Doch diese Entwicklung darf nicht zum Stillstand kommen. Pflegepersonen sollen sich mit den sexuellen Bedürfnissen von Patient/inn/en auseinandersetzen, um adäquat und professionell damit umgehen zu können. Denn im Pflegealltag werden sowohl Patient/inn/en, Bewohner/innen, Klient/inn/en als auch Pflegepersonen ständig indirekt mit dem Thema Sexualität konfrontiert (Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V., 2017). Oft ist es der erste Blick mit dem Pflegepersonen eine Frau als „Frau xy“ und einen Mann als „Herrn xy“ ansprechen. Dies geschieht unabhängig davon, ob sich die angesprochene Person als Frau oder Mann fühlt und welche kulturellen und gesellschaftlichen geschlechtsspezifischen Rollen diese Person ausfüllt oder auch nicht. Vielmehr hat diese erste Einschätzung mit biologischen Merkmalen und Verhaltensweisen zu tun. Daher ist es notwendig auch im Deutschen – wie es im Englischen üblich ist – die Begriffe „sex“ und „gender“ zu verwenden.

 

Die Komponente „gender“ umfasst psychosoziale, kulturelle, geschlechtsspezifische Verhaltensweisen und Aspekte. Die Komponente „sex“ hingegen beschreibt die biologischen und genetischen Aspekte (Miller, 2014). Im Laufe der Pflegeanamnese wird der Fokus nicht nur auf die biologischen Komponenten gelegt sondern auch auf (psycho-)soziale, psychologische, anerzogene, kulturell bedingte Faktoren, Verhaltensweisen, Coping Strategien und geschlechtsspezifische Rollen, um den erkrankten Menschen ganzheitlich versorgen zu können. Insbesondere sollen die Pflegepersonen hellhörig sein, welche Genderaspekte von der erkrankten Person direkt benannt und zwischen den Zeilen zur Sprache gebracht werden, um die Pflegeinterventionen und möglichen Beratungsinhalte individuell auf die jeweilige Person abstimmen zu können. Auch während des Krankenhausaufenthaltes, der Betreuung und Versorgung durch die extramuralen Pflegedienste oder der Zeit in einer Langzeitpflegeeinrichtung wird die Anamnese evaluiert und vertieft, sodass immer wieder neue Aspekte ergänzt werden können. Insbesondere in Bezug auf Genderaspekte müssen die betroffenen Personen oft zuerst Vertrauen zu den Pflegepersonen aufbauen, um diese aussprechen zu können. Genderspezifische Unterschiede in Bezug auf Gesundheit und Krankheit können jedoch nicht dichotom in „typisch weiblich“ oder „typisch männlich“ eingeteilt werden, sondern variieren auf einem Kontinuum und sind unter anderem abhängig vom Lebensstil der betroffenen Person (Vari et al., 2016). Daher benötigen Pflegepersonen das Wissen über die beiden Pole „typisch weiblich“ und „typisch männlich“, um in der individuellen Pflegesituation sensibel auf die Bedürfnisse der Patient/inn/en eingehen zu können.

 

Darüber hinaus ist es für Pflegepersonen essenziell sich mit Sexualität zu beschäftigen. Nicht nur deshalb, dass durch sämtliche Klischees eine sexualisierte Konnotation mit dem Beruf der „Krankenschwester“ einher geht sondern vielmehr, weil jeder Mensch ein sexuelles Wesen ist, mit sexuellen Empfindungen und Bedürfnissen. Durch verschiedene Krankheiten kann es zu Veränderungen im Bereich der Sexualität kommen – wie es in dem eingangs erwähnten Fallbeispiel war. Mit diesen Veränderungen adäquat umzugehen ist Aufgabe der Pflegepersonen. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, was mit der Pflegedimension „Sich als Frau oder Mann fühlen“ gemeint ist. Wie sollen Pflegepersonen diese Pflegedimension berücksichtigen? Warum sollen sich Pflegepersonen überhaupt mit der Sexualität von anderen Menschen beschäftigen? Ist nicht „jeder seines Glückes Schmied“ und daher selbst dafür verantwortlich?

Krohwinkel (2013, S. 41ff) beschreibt in den Aktivitäten, sozialen Beziehungen und existentiellen Erfahrungen des Lebens (ABEDL) die Kategorie „die eigene Sexualität leben können“ als eine Dimension, in der „neben Fähigkeiten und Ressourcen individuelle Bedürfnisse der Person von besonderer Bedeutung“ (Krohwinkel, 2013, S. 151) sind. Aufgabe von Pflegepersonen ist es nun ein positives Selbstempfinden der von ihnen betreuten und gepflegten Frauen und Männer zu ermöglichen und dabei einen natürlichen Umgang mit sexuellen Bedürfnissen der pflegebedürftigen Menschen zu fördern. Dabei ist es notwendig auf unangemessenes sexuelles Verhalten zu reagieren und Lösungen zu suchen, die dieses Verhalten vermindern oder in gesellschaftlich akzeptierte Bahnen lenken (Krohwinkel, 2013, S. 198ff). In manchen pflegerischen Situationen kann es auch notwendig sein danach zu fragen, ob eine Frau von einer Frau oder ein Mann von einem Mann gepflegt werden möchte – z.B., wenn es um das Legen eines Blasenkatheters oder die Durchführung der Körperpflege geht. Ein geschlechter- und gendersensibler Umgang mit den Patient/inn/en bedeutet auch, dass die pflegebedürftige Person unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung betreut wird. Aufgabe der Pflegepersonen ist es, den jeweiligen Menschen mit der je eigenen Sexualität zu akzeptieren und in der Entwicklung einer positiven Selbstannahme zu fördern (International Council of Nurses, 2012).

 

Im Bereich der Medizin gibt es eine Reihe von Studien, die belegen, dass z.B. Pharmaka bei Frauen und Männern unterschiedlich wirken, da die Pharmakodynamik und die Pharmakokinektik Unterschiede zwischen den Geschlechtern aufweisen (Thürmann, Janhsen, & Welke, 2016, 325). Daher liegt der Fokus der Gendermedizin insbesondere auf der gleichberechtigten Verschiedenartigkeit von Frauen und Männern und der Identifikation der biologischen und psychosozialen Differenzen der Geschlechter (Kautzky-Willer & Tschachler, 2012). Auch die geschlechterspezifische und -sensible Pflege folgt diesen Ansätzen. Das Institut für Gendermedizin am Karolinska Institut in Stockholm, Schweden, beteiligt sich aktiv an der Implementierung eines Konzepts zur Berücksichtigung der Geschlechterperspektive in der Pflege (Loddo, Cottonaro, Daga, & Bellini, 2013). Pflegepersonen sollen bei der Auswahl und Anwendung der Pflegemaßnahmen oder der Beratungsinhalte geschlechtsspezifische und gendersensible Komponenten berücksichtigen. Vor allem aber soll ein professioneller Umgang mit Sexualität gewährleistet werden und jeder Mensch so wahrgenommen und angenommen werden, wie sich diese Person selbst sieht und definiert.

 

Literaturverzeichnis:

Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (2017). Themenblatt 7: Gleichstellung und Pflege. https://gleichstellungsbericht.de (23.11.2017).

International Council of Nurses (2012). ICN Code of Ethics for Nurses. https://www.dbfk.de/media/docs/download/Allgemein/ICN-Ethikkodex-2012-deutsch.pdf (08.09.2020).

Kautzky-Willer, A., & Taschler, E. (2012). Gesundheit: Eine Frage des Geschlechts. Die weibliche und die männliche Seite der Medizin. Wien: Verlag Kremayr & Scheriau KG.

Krohwinkel, M. (2013). Fördernde Prozesspflege mit integrierten ABEDLs: Forschung, Theorie und Praxis. Bern: Verlag Hans Huber.

Loddo, G., Cottonaro, S., Daga, F., & Bellini, P. (2013). Gender Medicine A new approach for healthcare. http://www.istud.it/up_media/pwscienziati13/gender_medicine.pdf (08.09.2020)

Miller, V. M. (2014). Why are sex and gender important to basic physiology and translational and individualized medicine? American Journal of Physiology. Heart and Circulatory Physiology, 306(6), 781-788.

Thürmann, P. A., Janhsen, K., & Selke, G. W. (2016). Geschlechteraspekte in der Pharmakotherapie. In P. Kolip & K. Hurrelmann, (Hrsg.), Handbuch Geschlecht und Gesundheit. Männer und Frauen im Vergleich (S. 325-337). Bd. 2. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Bern: Hogrefe Verlag.

Varì, R., Scazzocchio, B., Amore, A. D., Giovannini, C., Gessani, S., & Masella, R. (2016). Gender-related differences in lifestyle may affect health status. Annali dell’Istituto Superiore Di Sanita, 52(2), 158–166.

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