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„Energiewende“ versachlicht

DMZ –  POLITIK ¦ Dirk Specht ¦                                 

KOMMENTAR

 

Die Energiepreiskrise, die auch, aber gewiss nicht nur auf einer Energiekrise basiert, wird sowohl durch die Politik als auch durch so etwas wie Empörungs- und Sensationspublizistik leider erfolgreich genutzt.

 

So lesen wir täglich von einer verantwortungslosen Energiewende, ohne dass klar wird, was mit diesem inflationär genutzten Begriff überhaupt gemeint ist. Von einer De-Industrialisierung ist die Rede, Blackout-Gefahren, nutzloser Windkraft, „Zappelstrom“, den wir teuer produzieren und nur verschenken können, wenn zu viel davon produziert wird, während wir teuer importieren müssen, sobald der fehlt. Es sei reine Physik, dass es nur mit Atomkraft möglich sei und alle Länder außer dem dummen Deutschland hätten das verstanden. Die „Dunkelflauten“ werden entdeckt und alle in der Energiewirtschaft scheinen Idioten zu sein, da sie daran einfach nicht denken wollen. Meist ist grüne Ideologie schuld, über die man sich bis zu Hasskommentaren entlädt.

 

Lösung verspricht alleine Kernkraft und das gilt natürlich auch für die Sache mit den Preisen. Zuverlässige Kernkraftwerke bauen und alles andere weglassen. Nun, das ist in der Tat Ideologie und zudem keine, die so etwas wie Lösungskompetenz beinhaltet.

 

Bei der Einleitung sind vermutlich die Ideologen bereits ausgestiegen, aber das ist ohnehin nicht zu verhindern. Wen es wirklich interessiert, der findet im Folgenden eine sachliche Zusammenfassung der jüngeren Geschichte der Stromerzeugung in Deutschland und einen kleinen – in der Tat kritischen – Ausblick, wie es weiter gehen könnte.

 

Den Anfang macht die installierte Leistung in der Stromerzeugung Deutschlands aus dem Jahr 2002, die dem ersten Chart zu entnehmen ist. Hier sehen wir ca. 105 GW an jenseits von Wind- und PV installierter Kraftwerksleistung. Steinkohle hatte die größte Kapazität, Gas-, Braunkohle- und Kernkraft folgten mit ähnlichen Anteilen von je um ein Fünftel. Der führende Energieträger war mit mehr als 50% die Kohle.

 

Wenn wir in Chart2 dieselbe Darstellung für 2011, also das Jahr des Unfalls in Fukushima betrachten, so erkennt man zunächst, dass die installierte Leistung jenseits von Wind- und PV mit ca. 100 GW ungefähr identisch geblieben ist. Innerhalb der Kraftwerkstypen gibt es jedoch einige Bewegung: Die Gaskraftwerke liegen nun vorne, Kernenergie ist zurück gefahren worden, die Kohle ist insgesamt aber immer noch der führende Energieträger mit immer noch ca. 45%. Im Wesentlichen sehen wir also eine Verschiebung von Kernkraft zur Gaskraft.

In Chart3 findet sich nun die aktuelle Struktur. Erneut ist festzustellen, dass die installierte Leistung sich kaum verändert hat, wir sprechen nun von 95GW jenseits von Wind- und PV. Die Verschiebung von Atomkraft zur Gaskraft hat sich fortgesetzt, Kohle ist aber nur geringfügig auf immer noch 40% als führender Energieträger zurück gegangen.

 

Nun ist die installierte Leistung nicht gleich der tatsächlichen Erzeugung, da die jeweiligen Kraftwerke unterschiedlich eingesetzt werden. Der größte Unterschied besteht zwischen Kernkraftwerken, die typbedingt meist mit nahezu 100% Auslastung gefahren werden und den Gaskraftwerken, die sich besonders leicht komplett ein- und ausschalten lassen.

 

In Chart 4 sehen wir die Erzeugung in 2002. Hier wurden etwas mehr als 450 TWh in Summe erzeugt und wegen dieser Auslastungsunterschiede ist dabei der Kernkraftanteil höher als dessen Quote an der installierten Leistung. Aber das meiste wurde trotzdem mit Kohle erzeugt – sie war und ist auch in der tatsächlichen Produktion der führende Energieträger. 

In Chart5 folgt nun die Erzeugung im Jahr 2021, dem letzten vollständig vor der Energiekrise vorliegenden. Wir sehen zunächst, dass mit knapp 490 TWh kein erheblicher Zuwachs in fast 20 Jahren zu verzeichnen ist. Tatsächlich wächst unser Strombedarf bisher kaum, weil wir keine wesentliche Elektrifizierung in unserem Gesamtenergiemix betrieben haben und zugleich die elektrischen Verbraucher weitere Effizienzverbesserungen erfahren haben. Strukturell sind inzwischen die Erneuerbaren bekanntlich ein maßgeblicher Energieträger geworden, wodurch die erzeugte Menge aus konventionellen Kraftwerken rückläufig ist. Aber hier hat sich das Bild gar nicht verändert: Kernkraft produziert überproportional, Gaskraft unterproportional und die Kohle bleibt der führende Energieträger.

 

Zum Vergleich folgt in Chart6 die bisherige Erzeugung im laufenden Jahr 2022. Hier gibt es eine strukturelle Änderung, die auf die Energiepreiskrise zurückzuführen ist, diese aber leider nicht wirkungsvoll behebt: Der Anteil an der Gaskraft ist gesunken, aber Gas konnte nicht vollständig verdrängt werden, weshalb es wegen des Merit-Order Prinzips preisdominant bleibt. Die Kernkraft ist bekanntlich durch die Abschaltung von drei weiteren Kraftwerken ebenfalls zurück gegangen – und das wurde durch einen erstmals seit längerem steigenden Anteil an Kohleverstromung kompensiert. Die Kohle bleibt nicht nur der führende Energieträger, sie legt sogar erstmals wieder zu.

 

Wenn man diese Daten zu installierter Kraftwerksleistung und zur tatsächlichen Produktion betrachtet, so kann man von einer unverantwortlichen „Energiewende“ mit allen damit verbundenen Bewertungen schlicht nicht sprechen. Hier ist ohnehin von einem mehrfachen Wechsel der Energiepolitik durch das komplette Parteienspektrum die Rede, von „DER Energiewende“ zu sprechen ist also ohnehin bereits falsch.

Die Tatsachen sind relativ leicht zusammenzufassen: Es hat niemals ein Defizit an Kraftwerkskapazität gegeben, die Sache mit den Dunkelflauten scheint wohl doch bekannter zu sein, als so mancher Energiephilosoph denkt und die Energiewirtschaft, die man an der Stelle gerne von der Politik trennen darf, scheint auch nicht nur aus Idioten zu bestehen. Das ist eine zwar politisch mehrfach mit unterschiedlichen Akzenten bestimmte Energieversorgung, aber sie ist stets seriös und zuverlässig umgesetzt worden. Zu einer persönlichen Bewertung komme ich später, aber hier ist zunächst mal festzustellen, dass es in Deutschland nie einen fahrlässigen Umgang mit der Energieerzeugung gegeben hat und das ist auch heute nicht anders.

 

Nun wird gerne behauptet, „die Energiewende“ (was auch immer das sein mag), habe zu einer gigantischen Importabhängigkeit geführt. Deutschland sei nicht mehr selbst versorgbar und müsse Strom aus „zuverlässigen“ ausländischen Kraftwerken importieren.

Dazu schauen wir mal in Chart 7 auf die Im- und Exporte im Jahr 2020 – frühere Daten gibt es leider nicht in der Qualität.

 

Hier ist erkennbar, dass Deutschland im Saldo Stromexporteur ist, was tatsächlich bereits seit 2005 der Fall ist. Aber mit der Schweiz, den Niederlanden und Dänemark gab es einen negativen Saldo, aus diesen Ländern wurde also mehr importiert, als exportiert. Zum gerne genannten Frankreich gab es übrigens einen Exportüberschuss.

 

Vergleicht man das in Chart 8 nun mit 2021, so erkennen wir solche negativen Salden zu erneut Dänemark, nun aber Polen und Norwegen.

 

Das setzt sich nun auch in 2022 fort, wie Chart 9 entnehmen können. Erneut ist ein negativer Saldo zu den drei genannten Ländern erkennbar, vor allem aber eine deutliche Steigerung der Exportleistung.

 

Der Export Deutschlands hat sich im Krisenjahr 2022 in der Tat geändert, die Exportsteigerung ist nun auch saisonal erkennbar. Während wir (Chart 10) im Jahr 2021 noch über die Sommermonate – ein Bild, das bereits seit Jahren so ist – noch im Saldo Importeur waren, ist das (Chart 11) erstmals in 2022 nicht mehr so: Deutschland exportiert in diesem Jahr ganzjährig mehr als es importiert.

An der Stelle wird nun gerne behauptet, diese Salden seien nicht aussagekräftig, tatsächlich müsste bei hoher Wind- und PV-Leistung Strom quasi verschenkt werden, während er dann abends oder nachts umso teurer zurückgekauft werden müsse, weil wir dann selbst nichts mehr produzieren könnten. Das ist offensichtlich falsch, denn die Exportstatistik in Geldwerten, also nicht in Energiewerten aus Chart 12+13 widerlegt die These sofort: Ganz im Gegenteil wird erkennbar, dass nicht nur der Exportüberschuss in Strommenge zugleich ein positiver Exportüberschuss in Euro ist, sondern sogar, dass Deutschland überproportional mehr Euro importiert, je höher der Überschuss in Strommenge ausfällt.

 

Wie groß und verzweigt dieses europäische Netz ist, kann Chart 15 entnommen werden. Es reicht von Skandinavien bis nach Nordafrika und von UK bis in die Ukraine.

 

Es ist also erkennbar, dass unsere Handelspartner beim Strom sogar dann höhere Preise zahlen, wenn wir besonders viel exportieren können. Nun steht natürlich noch die These im Raum, wir würden dauernd in Dunkelflauten geraten, die uns zum Import zwingen, weil wir nicht genug Kraftwerke haben. Die oben dokumentierte installierte Leistung widerlegt jedoch bereits die These, es mangele an Kapazitäten. Wir haben immer noch 95GW installierte Leistung jenseits von Wind- und PV, unser typischer Bedarf liegt bei 65GW. Richtig ist allerdings, dass alle Länder stets in beide Richtungen handeln. In 2022 haben wir beispielsweise von unserem wichtigsten Lieferanten, Dänemark, bisher 10,8 TWh Strom bezogen, aber zugleich 2,7 TWh nach Dänemark geliefert.

 

Es gibt kein einziges Land in Europa, das nur exportiert und nichts importiert. Selbst das ferne Norwegen importiert täglich Strom aus dem europäischen Netz. Die These, das sei für Deutschland phasenweise technisch zwingend notwendig, habe ich oft gelesen, einen einzigen Beleg dazu habe ich nie gefunden. Das dürfte angesichts der installierten Kapazitäten auch schwerlich gelingen und die Tatsache, dass unsere Stromindustrie in der Lage ist, auf die europäische Stromkrise durch eine massive Steigerung der Exportmenge zu reagieren, widerspricht dem ebenfalls.

 

Richtig ist vielmehr, dass das europäische Netz mal geschaffen wurde, um Überschüsse und Defizite viel breiter austauschen zu können und die Versorgung insgesamt sicherer zu machen. Alle Erzeugungstypen, mit einer einzigen Ausnahme – und das ist die Gaskraft – haben nämlich ein gemeinsames Problem: Sie erzeugen nicht auf den Punkt genau das, was gebraucht wird. Wind- und PV produzieren wetter- und zeitabhängig, träge Kraftwerke erzeugen nur, wenn sie vorher hochgefahren werden und dann können sie auch nicht so einfach wieder abgeschaltet werden. Wind- und PV sind also volatil, Kohle- und Kernkraft erzeugen Latenzen. Beides führt immer wieder zu Überschüssen oder Defiziten gegenüber dem tatsächlichen Bedarf, der aber rein technisch sehr präzise produziert werden muss.

 

Das Stromnetz erlaubt nämlich weder das eine, noch das andere. Wird mehr verbraucht als produziert, muss der Verbrauch „abgeworfen“ werden, Verbraucher werden also notfalls getrennt. Wird mehr produziert, als gerade verbraucht wird, muss aber „abgeriegelt“ werden: Windräder stehen still, tatsächlich produzierter Strom aus PV oder Kraftwerken wird vernichtet oder die Kraftwerke verlieren ihren Brennstoff als Abwärme, die Turbinen werden abgetrennt.

 

Das ist vor allem eines: Ineffizient und teuer, notfalls auch für die Versorgung kritisch. Daher wurde das europäische Netz immer tiefer integriert, es ist heute das größte verbundene Netz der Welt. Es erlaubt einen Ausgleich von Überschüssen und Defiziten wie in keiner anderen Region der Erde, es ist zunächst mal ein Meisterwerk. Gesteuert wird das u.A. über die Strombörsen, an denen jeder seinen Bedarf einkaufen, aber auch seine Produktion verkaufen kann. Ob im Einzelfall also Exporte oder Importe passieren, hat ganz wesentlich etwas mit der zeitaktuellen Produktions/Verbrauchslage in anderen Regionen zu tun – und wird über den Preis gesteuert. Wenn also insbesondere ein Land mit Überkapazitäten wie Deutschland importiert, dann deshalb, weil gerade woanders billigere Kapazitäten verfügbar sind. Und das ist richtig so!

Wie sich das in ganz Europa auswirkt, ist Chart 14 zu entnehmen, das die Im- und Exportströme aller im Netz angeschlossenen Länder darstellt. Wenn man von einigen Ländern in Osteuropa, wo das Übertragungsnetz noch nicht so weit ausgebaut ist, absieht, gibt es nur Norwegen, das zu allen Partnern einen positiven Exportsaldo aufweist. Selbst unser wichtigster Importpartner, Dänemark, importiert netto selbst aus Norwegen.

 

Damit zu einer Bewertung der Stromerzeugung in Europa und der Frage, wer welche „Energiewende“ eigentlich verfolgt und was dazu zu sagen ist. Zunächst muss man die Sondersituation in der Energiekrise 2022 vollständig betrachten.

 

Wir haben zunächst seitens der Gaskraft in ganz Europa bekanntlich eine Preiseskalation, aber bisher keine Mangelsituation. Das Merit-Order Prinzip überträgt diesen Preis leider auf den Strompreis. Zudem sogar mit Faktor 2: Während der Gaspreis um die 200 EUR pro MWh pendelt, sind es beim Strom 400 EUR pro MWh. Das ist eine sehr einfache Logik, denn die schlechteren Gaskraftwerke haben einen Wirkungsgrad von 50%, die brauchen also doppelt so viel Energiemenge an Gas, wie an Strom herauskommt. Gerade aufgrund der komplexen Integration des Europäischen Strommarkts kann nun an dem Preismechanismus der Börse oder gar an dieser selbst nicht so einfach etwas geändert werden. Es ist fatal, dass die Kraftwerksplanung in ganz Europa ausgerechnet an so einen Börsenmechanismus gekoppelt wurde, der für eher gleichmäßige Erzeugerpreise gestaltet wurde und vollkommen übersehen hat, dass man bestimmte Erzeugerformen rein technisch nicht substituieren kann. Hier wurde ein Marktprinzip designt, das in anderen Märkten das Ausscheiden von Anbietern mit zu hohen Preisen erzeugt – beim Strom ist das aber nicht möglich.

 

Insbesondere die Gaskraftwerke können nicht (vollständig) ersetzt werden, in keinem Land Europas. Sie sind zur Spitzenlastproduktion und damit zur Stabilität des Netzes unverzichtbar, oft werden sie zur Wärmeerzeugung genutzt und auch das leistet kein anderer Kraftwerkstyp. Zugleich interagieren an diesen Börsen tausende Versorger und Produzenten, um ihre Last einzudecken und ihre Produktion zu planen. Man kann das weder aussetzen, noch ist es ohne unvorhersehbare Folgen möglich, den Preismechanismus anzupassen und damit beispielsweise die Planung von Gaskraftwerken ökonomisch in Frage zu stellen. Es ist ein Weg, den Preismechanismus zu ändern, er wird hoffentlich begonnen und gelingen – mehr Kernkraftwerke leisten dabei genau gar nichts.

 

Aber es ist in 2022 mehr passiert. In Frankreich fehlt wegen operativer Mängel der Vergangenheit ein ganzer Kraftwerkspark. Über den kompletten Winter sollen 10-20 GW dauerhaft ausfallen. Die Trockenheit hat die Wasserkraft in ganz Europa reduziert. Logistische Probleme beim Transport insbesondere von Kohle über Flüsse gefährden den Einsatz von Kohlekraftwerken. Probleme mit dem Kühlwasser bei Kraftwerken kommen hinzu. Während das Gas also eine Preiskrise auslöst, könnten diese Probleme eine Knappheit beim Strom bedeuten. Offen ist zudem die Entwicklung des Stromverbrauchs über den Winter. Wegen der Preise und schlimmstenfalls bei Gasrationierungen könnten Verbraucher zur Wärmeerzeugung deutlich mehr Strom nachfragen. In Frankreich und der Schweiz, wo mit Strom geheizt wird, ist es zudem witterungsabhängig.

 

Das ist insgesamt eine Summe an Belastungsfaktoren, die seitens der EU-Energieminister zu einem Einsparziel von 10% beim Strom führt. Mehr oder weniger offen wird auch über eine mögliche Mangellage beim Strom gesprochen, die zu regional und zeitlich begrenzten Abwürfen führen könnte: Also geplanten oder spontan ausgelösten Stromabschaltungen für mehrere Stunden. Ein Blackout, also ein kompletter Kontrollverlust über das Stromsystem, wird hingegen bisher – entgegen anders lautender Medienberichte – von den Verantwortlichen Netzbetreibern nicht erwartet. Jedenfalls nicht durch die Sondersituation, denn kein Experte wird generell einen Blackout ausschließen. Großflächige Störungen im Netz durch Naturkatastrophen oder Sabotage, gar Cyberangriffe sind jederzeit denkbare Szenarien, die das System an neuralgischen Punkten so unglücklich stören können, dass es nicht mehr zu managen ist.

 

Was derzeit oft übersehen wird, ist aber die Tatsache, dass der europäische Verbund momentan seine Krisenresistenz positiv unter Beweis stellt. Der Ausfall der französischen Kraftwerke und die vielen Probleme mit der Trockenheit wären vor einigen Jahrzehnten nicht kompensierbar gewesen. Frankreich hätte niemals eine ausreichende Versorgung organisieren können, die Schweiz vermutlich auch nicht. Momentan leistet das ausgebaute System also genau das, wozu es gedacht war und das sollte bei dem ganzen Krisengejammer nicht übersehen werden. Der Preismechanismus ist dabei ein gesondertes Thema, das von der physikalischen Versorgung getrennt zu sehen ist.

 

Aber es gibt auch Fehlentwicklungen durch diese Integration und das betrifft genau den Vorwurf, den man ausgerechnet der deutschen „Energiewende“ macht: Die Abhängigkeit von Importen. Chart 16 zeigt die Importstatistik wichtiger Länder im europäischen Stromnetz. Hier ist erkennbar, dass der praktische und ökonomisch gut finanzierbare Stromimport bei einigen Ländern dazu geführt hat, die eigene Erzeugung zu vernachlässigen. Italien, Österreich, Ungarn, aber auch die Niederlande sind hier beispielsweise zu nennen. Das sind nun in der Tat die Versorgungsgebiete, die neben Frankreich über den kommenden Winter von der Exportfähigkeit der übrigen Europäer abhängen. In der Tabelle sind die Länder des Kontinents genannt und man erkennt, dass deren Gesamtsaldo sogar negativ geworden ist. Die Versäumnisse gehen also so weit, dass Zentraleuropa im Saldo auf Importe angewiesen ist. Die sind im Wesentlichen aus UK und Norwegen bezogen worden.

 

Das ist schon wegen der weiten Transportwege, aber auch aus Sicht eines robusten Gesamtsystems keine akzeptable Entwicklung. Das europäische Netz hat also ausgerechnet in seinem Zentrum dazu geführt, die Kapazitäten nicht mehr ausreichend vorzuhalten – und diese Daten sind ja vor dem zusätzliche Ausfall in Frankreich sowie bei der Wasserkraft in den Alpen erhoben worden.

 

Viele Kommentatoren kritisieren in dem Zusammenhang den Ausstieg Deutschlands aus der Kernkraft. Betrachtet man aber die oben aufgeführten Kapazitäten in Deutschland, so gibt es keinen nennenswerten Rückgang bei uns und wir sehen im Gegenteil, dass wir unsere Exporte in der Krise steigern können. Es ist natürlich richtig, dass nun jedes GW zählt, dass in der Situation Deutschland keine verfügbaren Kraftwerke vom Netz nehmen sollte und es wäre gewiss entspannter, wenn die früheren Kernkraftwerke noch da wären. Aber die Defizite sind woanders entstanden und das sollte auch so benannt werden.

 

Wie der kommende Winter nun verläuft, hängt von der Witterung und der hoffentlich gelingenden Bereitstellung der Großkraftwerke in Frankreich ab. Die Reserven des Systems dürften auf den Prüfstein kommen. Niemand kann Lastabwürfe ausschließen, in keiner Region. Wenn es in den Defizitländern zu „chronischer“ Unterversorgung kommt, weiß zudem kein Experte, wie sich so ein Szenario auf das Gesamtsystem auswirkt. Theoretisch lässt sich das durch Lastabwürfe stabil managen, aber in dem hier im schlechtesten Szenario bevorstehenden Umfang wurde das bisher nie gemacht. Ein Rest an Unsicherheit bleibt – und das sollte allen eine Lehre sein, egal, wie es konkret ausgeht: Dieses Produktionsdefizit in Kerneuropa muss behoben werden!

 

Damit zu dem, was man vielleicht „Energiewende“ nennen könnte, was nun aber denkbar unklar ist. Die Daten oben belegen ja eindeutig, dass in Deutschland kein Defizit an Erzeugungssicherheit vorliegt, dass dies nach dem Ausstieg aus der Kernkraft aber zu einer Perpetuierung der Kohlekraft als wichtigsten Energieträger führte und zugleich einen Ausbau der Gaskraft erforderte.

 

Sowohl aus wirtschaftlichen Gründen wie auch mit Blick auf den Klimaschutz war dieser Kernkraftausstieg daher nicht zu vertreten. Insbesondere bei der Kernkraft stecken die wesentlichen Kosten in den Anlagen selbst. Dieses Vermögen wurde schlicht vernichtet. Bei den laufenden Kosten sind hingegen die fossilen Energieträger viel teurer. Die wurden aber dafür zusätzlich gebraucht. Das war also ökonomisch sehr teuer und es wurde über den Strompreis und den Steuerzahler verteilt. Klimapolitisch ist dieser Ausstieg ebenfalls nicht vertretbar, der CO2-Anteil am deutschen Strom ist dadurch so massiv gestiegen, dass auch die Erneuerbaren es nicht kompensieren konnten. Die Problematik der Abfälle sollte nicht klein geredet werden, aber die Emissionen fossiler Kraftwerke erzeugen gänzlich andere Mengen. Bleiben bei Erzeugung und Abfällen die Sicherheitsbedenken und das ist bekanntlich eine sehr individuelle Bewertung. Man kann niemandem die Berechtigung streitig machen, diese Technologie aus Sicherheitsgründen abzulehnen. Ich hätte mir aber eine Debatte gewünscht, in der man ehrlich sagt, dass es ökonomisch und klimapolitisch eine nachteilige Entscheidung ist, die man aus reinen Sicherheitsgründen trotzdem durchführt. Ob das in der Öffentlichkeit zu derselben Meinung geführt hätte?

 

Tatsächlich haben bekanntlich andere Länder diese Entscheidung anders getroffen. Wer nun aber in dem Kernkraftausstieg die Wurzel allen Übels vermutet und in deren Nutzung die Lösung aller Probleme, der darf bei beiden Fragen gerne ein wenig tiefer graben: Die jetzige Energie(preis)krise ist Null Komma Null auf den Ausstieg Deutschland zurückzuführen und sie ist durch Kernkraft auch nicht lösbar.

 

Kernkraftwerke leisten, wie die Daten oben zeigen, eine sehr gut geeignete Grundlastproduktion. Anders werden sie auch nirgendwo auf der Welt eingesetzt. Dabei sind sie übrigens bei einer Vollkostenrechnung aus Anlagen, Betrieb und Brennstoff sowie Entsorgung teurer als die leider immer noch sehr billige Kohle. Kernkraft ist keineswegs eine Option, die Produktionskosten zu senken, das ist ein Mythos. Gerade unter den Erfahrungen des Krisenjahrs 2022 ist eine zuverlässige Grundlast mit nur sehr wenigen Importwegen von Brennstoff aber ein Vorteil, den man sehen sollte. Es gibt also gute Gründe für diese Basisproduktion und es ist weiter so, dass eben nur die Sicherheitsbedenken dagegen sprechen. Alles andere stimmt nicht, sowohl pro als auch contra.

 

Zugleich können Kernkraftwerke die immer wichtiger werdende Spitzenlastproduktion nämlich nicht leisten. Die tatsächlich beste Kraftwerkstechnologie ist die Gaskraft. Diese Anlagen sind vergleichsweise günstig herstellbar, sie sind gut skalierbar, sie können im Netz sehr breit verteilt werden, was viel sicherer und effizienter als besonders große Kraftwerke mit besonders weiten Übertragungswegen ist. Ihr Wirkungsgrad ist viel höher als bei anderen Kraftwerkstypen, insbesondere bei den GuD-Gaskraftwerken, die Strom und Wärme produzieren, also noch geringeren Energieverlust zu verzeichnen haben. Eine Spitzenlastproduktion, also aus dem Stand bei kurzfristigem Bedarf sehr schnell hoch fahren und wieder komplett außer Betrieb zu gehen, ohne weiteren Brennstoff zu brauchen: Das alles leisten nur Gaskraftwerke, die in allen Belangen den übrigen Typen überlegen sind und rein technisch gar nicht mehr aus dem Netz wegzudenken sind.

 

Was auch immer unter „Energiewende“ politisch nun zu verstehen ist oder von welcher Partei tatsächlich geplant wird, ist eher intransparent. In der Wissenschaft wird seit Jahren hingegen die Kombination aus Erneuerbaren mit Speichern und Gaskraftwerken favorisiert. Dabei sollen die Gaskraftwerke anfangs als Brückentechnologie mit Erdgas und später dann mit synthetisch hergestellten klimaneutralen Gasen betrieben werden. Diese Gase, sei es Wasserstoff oder synthetisches Methan, sind quasi der Langzeitspeicher für Strom und Gaskraftwerke der beste Weg, diesen bedarfsgerecht zu erzeugen. Kernkraftwerke spielen bei dieser – um es mal klar zu sagen – vollkommen logischen „Physik“ keine Rolle mehr, weil sie kein technisches Angebot haben, das Vorteile mit sich bringt. Exemplarisch ist so eine Planung in Chart 17 dargestellt, wobei das nur eine von vielen repräsentiert.

 

Man sieht hier also, dass in der Wissenschaft sowohl der massive Ausbau der Stromproduktion als auch die dauerhafte Notwendigkeit von Kraftwerkstechnologie zur Erzeugung berücksichtigt werden. Auch Wissenschaftler sind keine Idioten, denen Facebook, Twitter und drittklassige Autoren in den Medien so etwas wie Dunkelflauten erklären müssen. Das tatsächliche Problem unserer wie auch immer definierten Energiewende ist nun aber ein ganz anderes und das trägt einen Namen: Gas. Während Kernkraft weder die Ursache, noch die Lösung des Problems ist, sondern nur ein Baustein zur Grundversorgung, stehen wir vor einem ganz anderen Problem: Wo soll das Gas herkommen?

 

Bis der Ausbau von Erneuerbaren in ganz Europa – ein weiteres Versäumnis dieses bequemen großen Strommarktes – und in geopolitisch stabilen Regionen der Welt diese Gasmengen als synthetischen Kraftstoff liefert, dauert es Jahrzehnte. Bis dahin war Erdgas wissenschaftlich als Brücke und politisch wohl eher als Parkplatz geplant.

 

Diese Planung hat nun erhebliche Lücken, sowohl ökonomisch als auch klimapolitisch als auch bezüglich der Versorgungssicherheit. Das kann Kernkraft nicht kompensieren und es macht keinen Sinn, eine Frage gesellschaftlich und politisch beliebig zu dehnen, zu stressen, für alle möglichen Sensationszwecke zu missbrauchen, die keine Antwort auf die wahre Herausforderung leistet: Wir müssen diesen Umbau mit weniger Erdgas bewältigen, dessen Beschaffung sicherstellen und die Produktion synthetischer Gase stärker beschleunigen, als bisher geplant. Dazu kann auch ein schnellerer Ausbau von Speichern dienen.

 

 

Das dürfte Investitionen erfordern und es ist daher umso schmerzlicher, dass derzeit dreistellige Milliardensummen in die Subvention von Gaspreisen fließen. Die wären bei Erneuerbaren, Stromspeichern und Elektrolyseuren besser investiert. Und ja, man kann auch Kernkraftwerke dazu nehmen. Sie sind aber kein Gamechanger. Der wird leider noch gesucht und es ist gewiss nicht seriös, auf die seit langem erwarteten Fortschritte in der Kernkraft zu setzen. Die sollten weiter angestrebt werden, aber wie sagt diese Community so gerne: Geplant werden darf nur auf Basis seriös produzierender Technologie. Der fehlt leider das Gas und die Antwort steht aus.

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