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Straumanns Fokus am Wochenende - Geschichtsvergessen

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦                    

KOMMENTAR

 

Wladimir Putin hat dieser Tage in seiner Rede zur Lage der Nation angekündigt, dass er den letzten verbliebenen Abrüstungsvertrag, «New Start», aussetzen wolle. «Die Aussetzung des Vertrags ist ein schwerer Schlag für die weltweite strategische Sicherheit», schrieb die NZZ postwendend. Leider hat sie vergessen zu erwähnen, dass zuvor andere Abrüstungsverträge (ABM, INF) von den USA gekündigt wurden und dass Amerika in den letzten Jahren auf mehrere russische Vorstösse in Sachen Rüstungskontrolle nicht eingetreten ist. Damals hat niemand von schweren Schlägen für die weltweite strategische Sicherheit gesprochen.

 

Die Vergesslichkeit der NZZ ist kein Zufall. Die Weigerung, sich unparteiisch mit der Geschichte auseinanderzusetzen, ist in den Talkshows der Öffentlich-Rechtlichen Fernsehanstalten wie in den Kommentaren führender Printmedien zu beobachten. Das erstaunt, handelt es sich doch bei ihnen um solche, die für sich in Anspruch nehmen, ihre Qualität aus der historischen Tiefe zu schürfen. Offenbar gilt das nicht, sobald es sich um den Ukraine-Krieg handelt und die Beteiligung der USA an der Genese dieses Kriegs.

 

Neulich bei Maischberger, als der Journalist und frühere Moderator beim SWR, Franz Alt, zu Gast war, fuhr Frau Maischberger dem promovierten Historiker und Politologen Alt mit boshafter Sturheit noch und noch übers Maul, wenn er an die Geschichte der Ost-Expansion der NATO und ihrer gebrochenen Versprechen erinnern wollte. Maischberger: Herr Alt, Sie reden immerzu von der Geschichte, aber jetzt haben wir anderes zu tun, wir müssen uns um die Gegenwart kümmern. 

 

Diese Zensur hat System. Das Geschichtsverständnis der Moderatoren, der Kommentatoren und der Chefredakteure hat Schlagseite. Putins Verbrechen anzuprangern, ist erwünscht. Die amerikanischen Provokationen aber, von der NATO-Osterweiterung über den Maidan-Putsch von 2014 bis hin zur Stationierung von Mittelstreckenraketen in Polen und Rumänien, sind tabu. Dem Schweizer Historiker Daniele Ganser, dem von der Phalanx der Mainstream-Journalisten unisono das Attribut «umstritten» angehängt wird (obwohl er nichts sagt, was er nicht hieb- und stichfest belegen kann), wurden schon mehrfach die Säle gesperrt, in welchen er seine Vorträge halten wollte.

 

Soweit sind wir also gekommen: dass irgendwelche Bürgermeister und Dorfmunis, die nichts ausser der Tagespresse lesen, sich ungestraft eine Vorab-Zensur dessen erlauben dürfen, was der Öffentlichkeit zumutbar sei. Weshalb? Weil Ganser sich erdreistet, das Tabu zu brechen. Weil er nicht Hosianna singt im Chor der Transatlantiker, sondern auf der Wahrheit besteht: dass es diesen Krieg nur gibt, weil Amerika ein Interesse daran hat, ihn provozierte und dann das Weltgewissen anrief, als Putins Divisionen marschierten. Denn die USA befürchteten, dass sich über den Handel mit Gas eine eurasische Allianz von Russland und Europa bilden könnte, die Amerikas Status als Supermacht gefährden würde.

 

Sind denn all die Historiker und Schriftsteller Scharlatane und Dummköpfe, die sich neben Ganser und Franz Alt auf eine Linie stellen: Benjamin Abelow, Stefan Baron, Noam Chomsky, Klaus von Dohnanyi, Seymour Hersh, Naomi Klein, Michael Lüders, Rainer Mausfeld, Emanuel Todd, Sarah Wagenknecht…? Wohl kaum! Weshalb glauben denn die bürgerlichen Meinungsmacher, uns vor ihnen schützen zu müssen?

 

All diese Autoren wollen nichts anderes als Aufklärung: dem Bürger die Informationen zur Verfügung stellen, die er benötigt für ein mündiges Urteil. Ihnen gegenüber ist die Geschichtsvergessenheit des Mainstream-Journalismus Anti-Aufklärung pur: Statt Hintergrundwissen zu vermitteln, betreiben sie sie den Katechismus. Sie werfen Fragen auf, um sie gleich selbst zu beantworten, und zwar so repetitiv, dass der Konsument dieser Gehirnwäsche tatsächlich der Illusion verfällt, er sei abschliessend informiert. Er ist es nicht. Er verwechselt nur das geltende transatlantische Glaubensbekenntnis mit Geschichte.

 

Putin ist ein Verbrecher, wer würde das bezweifeln. Aber ebenso zweifelsfrei ist, dass die Amerikaner kein Haar besser sind, siehe Vietnam, Afghanistan, Irak, Syrien… und die ungezählten Putschs auf der ganzen Welt, die der CIA inszenierte, um pro-amerikanische Regierungen zu installieren.

 

Die Wahrheit in diesem Krieg ist die, dass wir in einem Dilemma sind. Wir wissen, dass die USA mit dem Projekt, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, Putins rote Linie bewusst überschritten hat. Und wir wissen ebenso, dass Russland nach dem eklatanten Bruch des Völkerrechts und den Abscheulichkeiten, die sich seine Truppen zuschulden kommen lassen, Einhalt geboten werden muss. Deshalb ist drittens klar, dass wir die Ukraine, die zum Opfer des Ränkespiels der Mächte geworden ist, nicht im Stich lassen dürfen. Der Ausweg aus diesem Dilemma kann nur die Neutralität der Ukraine sein.

 

Aber das wollen westliche Politik und westliche Medien nicht, weil es amerikanischen Interessen widerspricht. Bereits der Begriff Dilemma ist für die Kalten Krieger in den Chefredaktionen ein No-Go. Denn wenn wir Menschen im Westen den Krieg als Dilemma verstünden, so würden wir auf Verhandlungen drängen, statt um einen Siegfrieden zu pokern, und wir würden die Neutralität der Ukraine befürworten. Weil man uns die historischen Fakten aber vorenthält, finden wir es ok, dass Zehntausende junger Ukrainer verheizt werden, weil sie für den Westen die Kohlen aus dem Feuer holen. Würde man den Menschen die Wahrheit nicht vorenthalten, dann würden sie sehen, wie zynisch das ist. Deshalb ist historische Aufklärung fürs erste gestrichen.

 

 

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Seit 2020 finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der «DMZ» Woche für Woche einen Kommentar von Dr. Reinhard Straumann. Mal betrifft es Corona, mal die amerikanische Aussen-, mal die schweizerische Innenpolitik, mal die Welt der Medien… Immer bemüht sich Straumann, zu den aktuellen Geschehnissen Hintergründe zu liefern, die in den kommerziellen Medien des Mainstream nicht genannt werden, oder mit Querverweisen in die Literatur und Philosophie neue Einblicke zu schaffen. Als ausgebildeter Historiker ist Dr. Reinhard Straumann dafür bestens kompetent, und als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen eingesetzt. Wir freuen uns jetzt, jeweils zum Wochenende Reinhard Straumann an dieser Stelle künftig unter dem Titel «Straumanns Fokus am Wochenende» in der DMZ Mittelländischen Zeitung einen festen Platz einzuräumen.  


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