RRRrrrr Renners Rasende Randnotiz - Baum

Alon Renner (Potrait von Olivia Aloisi)
Alon Renner (Potrait von Olivia Aloisi)

DMZ – KOLUMNE ¦ Alon Renner ¦                         

 

Diese Woche bin ich im Landesmuseum aufgetreten, dem Schweizer Nationalmuseum. Zusammen mit Andrea Keller, die mich hierzu eingeladen oder ganz eigentlich angestiftet hat. Unter dem Titel Poetree gaben wir Selbstgeschriebenes rund um das Thema Wald zum Besten. Dabei ist dieser Text entstanden, den ich Euch heute als Kolumne wiedergebe.

 

Gestatten, mein Name lautet Alon, Alon Renner. Und mit lauten meine ich lauten. Denn die Betonung liegt auf dem O. Warum die Aussprache meines Namens so manchem schwer fällt - das weiß ich nicht. Einige meiner Freunde nennen mich Aloooon und andere allons. Gar mancher nennt mich auch Aaalon, als ob es noch einen Belon und Celon gäbe. Und in der Tat gibt es diesen Elon, aber dies ist eine andere Geschichte. 

 

Wir Lons gehören also ganz offensichtlich zu einer weitverzweigten Familie die ganz grundsätzlich missverstanden wird. Dabei wäre doch alles so einfach. Der Name Alon stammt nämlich aus dem Hebräischen und bedeutet Eiche. Die Eiche, der hundertjährige Baum. 

Ihr wisst schon, die etwas einhäusige, gemischtgeschlechtliche, die durch den Wind bestäubte, deren männliche Blüten im Plural Kätzchen genannt werden und deren Frucht die Eichel ist, die Leibspeise der Schweine. Ausgerechnet…

Die mir dann auch noch laut grunzend zu Füßen liegen, sich an meinem Stamm reiben und sich im Schatten meiner Blätter wohlig tun. 

 

Überdies leben bis zu 1000 verschiedene Insektenarten auf mir. Ich bin die Brutstätte der schönsten Schmetterlinge, der Stammhalter der stärksten Ameisen und die Wohnungsverwaltung mit den schrägsten Vögeln. 

Auch werden wir in Listen geführt. Nach Bauchumfang. Es gibt z.B. diejenige Liste der dicksten Eichen der Schweiz und diejenige der Eichen Europas mit einem Stammumfang ab zehn Metern. 

Ganz und gar erstaunlich ist aber der Umstand, dass Dinge, die aus mir hergestellt werden, beständig sind. Tische, Stühle, Schränke und Regale aus Holz halten jahrzehntelang … Sie verwelken und verwesen nicht wie anderes pflanzliches Material. Wenn man mich entwurzelt, dann zahle ich es ganz offenbar mit Unsterblichkeit heim. Immer soll sich der Mensch daran erinnern, dass ich einst im Wald stand und ihn zusammen mit meinen Brüdern und Schwestern bildete. 

 

Aber warum zum Teufel heiße ich Alon? 

Als vor dem ersten Weltkrieg und nach der Machtergreifung Hitlers 1933 immer mehr Juden nach Palästina auswanderten und die Überlebenden des Holocausts nach 1945 ins Land kamen, benötigte es eine einheitliche Sprache für all die Menschen aus aller Herren Länder.

Das biblische Hebräisch war lange Jahrhunderte nicht mehr gesprochen worden. Es bedurfte einer Wiederbelebung. Den Staatsgründern schwebte überdies ein weltlicher Staat vor, in dem eine moderne Verfassung und ein modernes Gemeindewesen die Grundlage bildeten. Da wollte man auch bei der Namensgebung der Kinder nicht nur auf die Bibel zurückgreifen. So erhielten die Nachkommen der Einwanderer vielfach die Namen von Blumen, Bäumen, der Flora und Fauna. Yael zum Beispiel steht für die Bezeichnung einer bestimmten Bergziegenart und Tamar ist eine Dattelpalme.

 

Aber es waren nicht nur die Entwurzelten, die bei ihrer Niederlassung den Drang verspürten, ihre Kinder nach Blumen und Bäumen zu benennen. Auch ihre Nachbarn, die Palästinenser, Syrer, Libanesen und Jordanier, die Kurden, Iraner und Iraker tragen so klingende Namen wie: Zahra (was Blume oder Blüte bedeutet), Dalia (die Dahlie, die Weinrebe und der blühende Zweig), Amir (was blühen bedeutet), Tarik (der Nachtstern, aber auch die Blüte), Berfin (das Schneeglöckchen), Narges (die Narzisse), Nasrin (die wilde Rose), Lina (der kleine Dattelbaum), Tala (die Palme), Suri (die rote Rose), Akasiya (die Akazie) und Jumana (die Lilie).

 

In diesen heissen, trockenen Ländern, in denen es selten regnet und in denen ganze Landstriche von der Wüste eingenommen werden, löst der Anblick einer Blume, eines Baumes etwas ganz anderes in den Menschen aus als bei uns, wo die Sträusse jeweils frisch gestapelt vor dem Lidl liegen und man sich höchstens mit der Frage beschäftigt, ob der Bund Rosen beim Aldi nicht noch billiger zu erstehen wäre.

 

Im Nahen Osten tummeln sich Dutzende Völker, Ethnien und Religionen und Tausende von Stämmen. Der Ursprung der Bevölkerung geht auf diese Stämme zurück. Stämme, die sich das Leben gegenseitig nicht immer einfach gemacht haben und es nach wie vor nicht tun. Stämme, die Besitzansprüche auf Wasser, Land und die richtige Weltanschauung erheben, und Stämme, die unter klarem nächtlichem Himmel mit beladenen Kamelen von Oase zu Oase ziehen.

In den letzten Jahren sahen wir hier so viele Aufstände und Kriege. Vom Arabischen Frühling über den Krieg in Syrien bis zur blutigen Herrschaft des Islamischen Staates und dem Krieg in Jemen. Der endlose Konflikt zwischen den Israelis und den Palästinensern mit eingerechnet. Und derjenige der Kurden mit den Türken ebenfalls. All diese Stämme, die anstatt sich zu verzweigen und in die Höhe zu ragen, anstatt Blüten, Blätter und Früchte zu tragen, Felder aus Strünken und Rümpfen hinterlassen...

 

Seit 63 Tagen herrscht Krieg in Europa. Ein Krieg, der uns bis anhin unzählige Tote und 5,1 Millionen Flüchtlinge beschert hat. Flüchtlinge, die sich wie Samen im Wind über unseren Kontinent verstreut haben. Ich hoffe sehr, dass sie eines baldigen Tages nach Hause ziehen können, um ihr Land wieder aufzubauen und ihren Kindern Namen wie Lilia (die Lilie), Violetta (das Veilchen), Malva (die Malve), Lavrenti (das Lorbeerblatt) und Yuri (der Landwirt) zu geben.

Und nein, ich bin kein Israeli. Meine Mutter ist vor 52 Jahren in die Schweiz eingewandert. Ich heisse Alon, weil ich hier Wurzeln schlagen sollte...

 

Wenn Ihr wollt, dürft Ihr mich jetzt auch gerne umarmen.

 

Hier findet Ihr mich auf Social Media:

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Instagram: alon_renner


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Kommentare: 1
  • #1

    fritze (Samstag, 30 April 2022 17:37)

    schöner beitrag!